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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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anzweifeln, wenn er beteuerte, von jemandem in seinem Umkreis hereingelegt worden zu sein. Ich war sicher fähig, den böswilligen Gerüchten Glauben zu schenken und derart die ihn betreffenden Verdachtsmomente zu stärken. Ich weiß nicht, bis zu welchem Grad er persönlich in die Affäre verwickelt war, die ihm zur Last gelegt wurde, habe keine Ahnung, inwieweit das Gerede, wonach er erpresst worden sei, zutraf (schließlich hatte mir Marie eines Abends gesagt, sie habe den Eindruck, dass er in den letzten Tagen vor seinem Tod eine Waffe bei sich trug). Ich täuschte mich vielleicht manchmal in Jean-Christophe de G., niemals aber in Marie, ich wusste in allen Situationen, wie Marie sich verhielt, ich wusste, wie Marie reagierte, ich kannte Marie auf eine bestimmte instinktive Weise, ich besaß von ihr ein naturgegebenes inneres Wissen, ich besaß das absolute Verstehen: Ich wusste die Wahrheit über Marie.
    Was wirklich zwischen Marie und Jean-Christophe de G. in den wenigen Monaten ihrer Bekanntschaft geschehen war, während dieser Beziehung, die sich, rechnet man einmal nach, wie häufig sie sich gesehen haben, auf ein paar gemeinsam verbrachte Nächte beschränkte, vier oder fünf Nächte, mehr nicht, verteilt über einen Zeitraum von Ende Januar bis Ende Juni (zu denen man vielleicht noch ein Wochenende in Rom, ein oder zwei Mittagessen und den gemeinsamen Besuch einiger Ausstellungen hinzuzählen musste), was wirklich geschehen war, konnte niemand wirklich wissen. Ich vermochte mir nur die Gesten Maries auszumalen, wenn sie mit ihm zusammen war, ich konnte mir ihre geistige Verfassung und ihre Gedanken vorstellen, ausgehend von bestimmten Details, die sich als richtig herausgestellt haben oder von mir richtig kombiniert worden sind, die gesichert waren oder vielleicht auch nur in meiner Phantasie existierten, Einzelheiten, die ich mit bestimmten gravierenden oder schmerzlichen Ereignissen, von denen ich wusste, dass sie Jean-Christophe de G. widerfahren waren, ergänzen konnte, um so wenigstens ein paar unbestrittene Elemente der Wahrheit in das unvollständige, rissige, lückenhafte, so unzusammenhängende und widersprüchliche Mosaik einzufügen, das die letzten Lebensmonate Jean-Christophe de G.s für mich darstellten.
    In Wahrheit aber hatte ich mich von Anfang an in Jean-Christophe de G. getäuscht. Zunächst, weil ich ihn immer nur Jean-Christophe genannt habe, obwohl er doch Jean-Baptiste hieß. Ich habe mich sogar in Verdacht, mich in voller Absicht in diesem Punkt geirrt zu haben, um mich nicht um das Vergnügen zu bringen, seinen Namen zu entstellen, nicht, weil Jean-Baptiste schöner oder auch eleganter als Jean-Christophe gewesen wäre, es war einfach nicht sein richtiger Vorname, und diese kleine posthume Demütigung reichte zu meinem Glück aus (wäre sein Vorname Simon gewesen, hätte ich ihn Pierre genannt, ich kenne mich). Dann war ich immer davon ausgegangen, dass Jean-Christophe de G. Geschäftsmann sei (was nicht wirklich stimmte) und dass er in der Welt der Kunst tätig gewesen sei, ein Galerist oder Kunsthändler, der internationale Kunst verkaufte, oder ein Sammler, und dass er in Tokio auf diesem Weg Marie kennengelernt hatte. Nun stimmt es zwar, dass er gelegentlich Kunstwerke gekauft hat (dann aber eher Gemälde alter Meister, Stilmöbel oder antiken Schmuck), doch war das in keinster Weise seine Haupttätigkeit. Jean-Christophe de G. war wie schon sein Großvater, vor allem aber sein Urgroßvater Jean de Ganay, eine prominente Persönlichkeit des klassischen französischen Pferderennsports, Pferdezüchter, Pferdebesitzer und Mitglied des Pferdezüchterverbands. In dieser Eigenschaft, als Besitzer eines Rennpferdes, war er Ende Januar nach Japan gekommen, wo eines seiner Pferde am Tokyo Shimbun Hai teilnahm, und es war purer Zufall, dass er sich zu jener Zeit in Tokio aufgehalten und die Vernissage von Maries Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa besucht hatte. Und dort, am Abend der Vernissage ihrer Ausstellung, hatte er Marie zum ersten Mal gesehen und ihre Bekanntschaft gemacht und sie erobert (und man kann sich fragen, in welcher Reihenfolge das geschah, das Ganze musste wie der Blitz passiert sein).
    Die Farben des Rennstalls der Ganays – jockeyjackengelb, mützengrüngrün – hatte der Urgroßvater Jean-Christophe de G.s zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgewählt, der von 1933 bis zu seinem Tod Präsident des Pferdezüchterverbands gewesen war. Dieser glanzvolle

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