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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Jean-Christophe de G. hatte ein Taschentuch aus seiner Tasche geholt und säuberte vorsichtig die Wunde, entfernte einige Haare, die um die Verletzung herum klebten, öffnete dann den Erste-Hilfe-Koffer, den der Japaner ihm anvertraut hatte, begutachtete den Inhalt, diverse Fläschchen, Dosen, Cremetuben, Kompressen, Mullbinden, Scheren. Er zog ein Brillenetui aus seiner Tasche und setzte seine Brille auf, Marie sah hier im Pferdecontainer zum ersten Mal, dass Jean-Christophe de G. eine Brille trug (vermutlich hatte er es bisher aus Eitelkeit vermieden, in ihrer Gegenwart eine Brille aufzusetzen, aber Marie fand es amüsant, diese so anrührende Entdeckung im Frachtraum eines fliegenden Flugzeugs zu machen), er studierte den langen kleingedruckten englischen Text auf dem Etikett eines der Fläschchen des Herstellers Schein Inc., hielt es nah vor die Augen und überflog es schnell: Povidon Topical Solution (ja, das ist Jodtinktur, sehr gut, sagte er, man kann ein paar Tropfen davon dazutun, um die Wunde zu desinfizieren).
    Die Reisebox des Pferdes war einfach, aber mit allem ausgestattet, mit Vorräten an Futter und Stroh, mehreren Fünf-Liter-Kanistern mit Wasser. Jean-Christophe de G. hatte sich an der Seite des Containers niedergekauert und etwas Wasser aus einem der Kanister in eine Schüssel gefüllt, dann träufelte er vorsichtig ein paar Tropfen der Salzlösung in die Schüssel, fügte ein antiseptisches Präparat hinzu, bis die Mischung, die er vorsichtig mit seinem Zeigefinger anrührte, eine Farbe von leichtem Oolong-Tee angenommen hatte, mit einigen dunkleren Schlieren darin, die wie wellenförmig gewundene lakritzfarbene Blutgefäße aussahen. Wegen des turbulenten Flugs richtete er sich vorsichtig wieder auf, näherte sich schwankend dem Pferd, mit der Schüssel in der Hand, in der das Wasser laut plätschernd tanzte und in kleinen Wellen auf das Stroh schwappte. Die Schüssel an die Brust gepresst, um sie vor den Stößen des Flugzeugs zu bewahren, begann er, die Wunde zu reinigen, er rieb das abgestorbene Fleisch mit einer feuchten Kompresse ab, entfernte die Unreinheiten um die Verletzung herum, kleine Steinchen, Staub und andere Fremdkörper, die noch am lädierten Körperteil klebten. Das Pferd ließ es mit abwesenden Augen geschehen, es schien unempfindlich. Wich nur einmal heftig zurück, als Beweis, dass es jederzeit wieder gefährlich werden konnte.
    Das Flugzeug war in eine neue Zone mit Turbulenzen geraten. Es wurde jetzt immer stärker durchgerüttelt, die Wasserkanister aus Plastik schlugen am Boden aneinander und die Halteriemen tanzten an den Wänden, schließlich rutschte der Erste-Hilfe-Koffer zu Boden und sein ganzer Inhalt verteilte sich auf der Streu, umgekippte Phiolen und kleine Scheren landeten im Stroh. Die Situation in der Pferdebox begann kritisch zu werden, Marie musste sich am Futtertrog festhalten, um nicht gegen das Pferd geschleudert zu werden, und aus den Lautsprechern des Flugzeugs waren ferne und verschwommene Echos dringender Cockpitansagen zu hören, die sie nicht verstanden, nur erraten konnten, man forderte sie auf, wieder ihre Sitzplätze einzunehmen und sich anzuschnallen. Die Lichter waren plötzlich überall angeschaltet, die Deckenleuchten des Frachtraums warfen grelles, rohes Licht auf die Stapel von Paletten, die man durch die geöffnete Tür der Pferdebox undeutlich sehen konnte, dann flackerten die Neonröhren an der Decke ein letztes Mal und erloschen, kein einziges Licht brannte mehr im Frachtraum, selbst die Notleuchten waren ausgegangen. Das Pferd lauerte, spürte die es umgebende Nervosität, wurde immer unruhiger in seiner Box, begann auf der Stelle zu stampfen, trat zurück, zerrte in allen Richtungen an seiner Leine, die Ösen des Futtertrogs, an denen es angebunden war, klirrten. Es versuchte eine Drehung, bäumte sich auf in der Box, stellte sich wieder gerade und fing an zu wiehern, mit offenem Maul und gebleckten Zähnen, ließ plötzlich im Dunkel das Zahnfleisch sehen. Marie, die glaubte, dass das Pferd sich losgerissen hatte, bekam Angst und verließ überstürzt den Container.
    Sie hatten beide überstürzt den Container verlassen, in der gleichen Aufwallung von Panik, in dem Durcheinander war die Taschenlampe zu Boden gefallen, sie hatten sie nicht einmal mehr aufgehoben, waren an den Wänden entlang hinausgekrochen, ohne innezuhalten oder zurückzugehen, hatten die brennende Taschenlampe einfach im Stroh liegen gelassen, ein winziges

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