Die Wahrheit über Marie - Roman
einem Zustand gesehen hatte und ihm fest die Hand auf die Nüstern drücken musste, um ihn zu beruhigen. Auf einer riesigen elektronischen Tafel, wie jene automatischen Anzeigen in Flughäfen, die im ständigen Wechsel die Ankunftszeiten mitteilen, informierten hier Tausende von Zahlen über die ständig wechselnden Wettquoten der Pferde, die am Start waren, deren zum Teil geheimnisvolle Namen wie sibyllinische Katakanas in elektrischen Dioden rötlich schimmernd im Nebel auftauchten, der das Hippodrom von Tokio umhüllte. Marie war zum ersten Mal bei einem Pferderennen, und sie war fasziniert von der Atmosphäre, die um sie herum im Paddock herrschte, so kurz vor dem Start des Tokyo Shimbun Hai . In der Begleitung von Jean-Christophe de G. hielt sie sich in jenem Geviert auf, das den Eigentümern der Pferde vorbehalten war, inmitten der bunt gemischten Fauna von Trainern und Pferdewettern, eine bunte Mischung aus westlichen und japanischen Gestalten, die Jockeys verstreut darunter in kleinen Gruppen, ernst, gekrümmt, große Rennbrillen auf ihren gepolsterten Mützen, weiße Reithosen und mit Reitpeitschen in den Händen, die vor dem Start, inmitten eines Buketts aus farbigen Hüten und durchsichtigen Regenschirmen, die in den feuchten Nebelschwaden über dem Paddock verblassten, ein paar Worte mit den Eigentümern wechselten.
Marie stand reglos und mit überkreuzten Armen da und musterte träumerisch die Kostüme der Jockeys, ihre Buntheit und ihre Farbenpracht, und malte sich aus, wie eine Haute-Couture-Kollektion mit dem Thema Pferdesport aussehen könnte, die die geometrischen Motive der Rennjacken aufnehmen würde, ein Arrangement von Kreisen und Rhomben, Kreuzen und Sternen, Epauletten und Borten, eine Fülle von Tupfern, Streifen, Fischgrät, von Trägern, Litzen und Aufnähern, wo sie Magentarot oder Solferinorot wagen würde, dazu kirschrote Ärmel einnähen, mit mohnblumenroten oder mandarinenfarbenen Mützen, kombiniert mit einem rehbraunen Aalstrich obendrauf. Sie würde mit Himbeerrot und Osterglockengelb spielen, mit Kapuzinerkresse, Kupferbraun, Flieder, Immergrün, Vergissmeinnichtblau, Maisgelb, sie würde knitterfreie Stoffe und indisches Tuch wählen, reine oder gemischte Seide, Taftseide, Tussahseide, Tussorseide, und beim abschließenden Defilee würde sie zum feierlichen Höhepunkt alle Mannequins gleichzeitig als Rudel junger Stuten auf den Laufsteg schicken, die mit im Wind wehender Mähne und in Roben aller Farben aufgaloppieren würden: rotfüchsig, rappenschwarz, rotbraun, baibraun, palominogelb, agoutibraun, isabellgold und champagnerfarben.
Marie fragte Jean-Christophe de G., ob das Wort la robe für alle Sprachen Gültigkeit besitze. Ob man dasselbe Wort in Englisch gebrauche, um das Haarkleid des Pferdes zu bezeichnen. A dress? Jean-Christophe de G. erklärte ihr, dass dem nicht so sei, dass man im Englischen coat sagen würde, Mantel – wegen des Klimas, erklärte er ihr mit einem Lächeln, in Frankreich mochten den Pferden Roben genügen, in England brauchten sie dann schon einen Mantel (und natürlich einen Regenschirm, fügte er gelassen hinzu). Jean-Christophe de G. und Marie waren am frühen Nachmittag am Tokyo Racecourse angekommen. Sie hatten sich die ersten Rennen aus den für die Pferdeeigner reservierten Logen in der obersten Etage des Hippodroms angeschaut. Von den luxuriösen Privatsalons aus hatte man durch die riesigen Panoramafenster oberhalb der Rennbahn eine ungehinderte Sicht auf die Rennstrecke. Dichter Nebel behinderte an diesem Tag die Sicht auf die Rennstrecke und ließ die Grenzen des Hippodroms im Dunst verschwinden. Müde und verstört sah Marie den Rennen zu, hinter der Glaswand stehend, verfolgte sie geistesabwesend ein unwirkliches Peloton von Vollblütern, das auf der Gegengeraden wie erstarrt an den Barrieren entlang durch den Nebel glitt, Jean-Christophe de G. kam gelegentlich zu ihr herüber, um nach ihr zu schauen, und sie traten dann durch die Glastür hinaus auf die Tribüne, um im Freien den Einlauf der Pferde zu erleben, dort, wo plötzlich in der feuchten und zittrigen Nachmittagsluft sich das Geschrei der zwanzigtausend im Hippodrom anwesenden Zuschauer erhob, die die Pferde am Eingang der Zielgeraden in einer Woge von Gejohle und frenetischen Rufen anfeuerten und leidenschaftlich die Arme ausstreckten und hochrissen, in einem Crescendo anschwellend, das bis zum Zieleinlauf, bis zum endgültigen Überreiten der Ziellinie nicht wieder abfiel.
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