Die Wahrheit über Marie - Roman
Schläuche zum Beladen und Auftanken waren entfernt worden, ein paar Servicefahrzeuge für die technische Versorgung standen noch auf dem Vorfeld, Hebeplattformen, Elektroaggregate, Zubringer, Lieferwagen, winzige Versorgungssatelliten des reglosen Riesen. Hinter der konvexen Windschutzscheibe des Cockpits, ein schmaler Schlitz, der sich hoch oben am gebogenen Kopf der Boeing öffnete, war gedämpftes Licht zu erkennen. Die Piloten waren vermutlich damit beschäftigt, die Flugstrecke zu programmieren und studierten im Schein ihrer Notbeleuchtung die Flugkarten, während sie im Halbdunkel ihrer Kabine auf Anweisungen des Towers warteten. Marie machte einen Schritt nach vorn, fing an zu rufen und mit beiden Armen zu winken. Sie stand unten am Fuß der Boeing und winkte mit den Armen, so wie ein Einweiser, wenn er die Flugzeuge in ihre Parkposition dirigiert, eine fragile Gestalt, die im Regen wilde Armbewegungen vollführte, um die Aufmerksamkeit der Piloten auf sich zu lenken, Marie, die immer mehr in Schwung geriet, Begeisterung und eine ununterdrückbare Heiterkeit überkamen sie, sie saß in der Patsche und war doch glücklich, sie fühlte sich mit einem Mal herrlich wohl hier unten im strömenden Regen mitsamt ihrem Gepäck vor dem Flugzeug, mit ihren dreiundzwanzig Taschen und Koffern, ihrem großen graugeperlten Koffer, dem kleinen weiß-beige gestreiften Rollkoffer von Muji, ihrer Basttasche mit doppeltem Reißverschluss, dem großen Dufflebag, ihrer Laptoptasche, ihrem Schminkkoffer, und nicht zu vergessen ihre Mitbringsel, die eleganten Einkaufstüten aus cremefarbenem Glanzkarton, die unter dem Regen litten, und drei große, zum Bersten volle Reisetaschen (natürlich keine davon geschlossen, Marie machte nie etwas zu, die Kleider schauten noch heraus, in letzter Sekunde hineingeworfene Sachen quollen über, der Kulturbeutel thronte wie ein schiefes Dach mitten auf den Kleidern, und auch der Kulturbeutel stand offen und daraus hervor ragten der Rougepinsel und eine unverschlossene Zahnpastatube), und in einem Anfall von Leichtigkeit, Unbekümmertheit und überschäumender Phantasie begann Marie, um ihre auf dem Asphalt des Vorfelds aufgereihten Koffer herumzulaufen, ihren unordentlichen Haufen dabei zu begutachten, um für sich festzustellen, dass ihr Gepäck trotz allem doch ein verdammt gutes Bild abgab und eine subtile Abstimmung der Farben aufwies: Ton in Ton beige, beige-weiß gestreift, sandfarben, naturfarben, Lederfarben (Marie bewies einfach Klasse, bis hinein in den Untergang).
Jean-Christophe de G. trat etwas abseits und telefonierte, langsam marschierte er in seinem eleganten Mantel im Regen auf und ab, eine Hand in der Tasche, das Telefon ans Ohr gepresst, auch er warf Blicke auf die Pilotenkanzel, um die Aufmerksamkeit der Piloten auf sich zu ziehen, nicht so offensichtlich wie Marie, nicht mit großen Gebärden, sondern auf indirekte Weise, indem er sich so zu stellen suchte, dass sie ihn ins Blickfeld bekamen. Aber auch er hatte keinen Erfolg und kam zurück, um neben Marie zu warten. Einige Minuten später tauchte der Frachtmanager der Lufthansa auf, stieg aus seinem Gefährt und rannte in seiner weiten Regenhaut zu ihnen herüber und entschuldigte sich vielfach, verwirrt, dass niemand da war, um sie am Flugzeug in Empfang zu nehmen, ein Kommunikationsproblem mit der Besatzung. Da stieg auch schon japanisches Bodenpersonal in grauen Overalls aus verschiedenen Fahrzeugen, und die Klappe des Frachtraums wurde geöffnet. Die Reisebox des Pferdes war inzwischen auf einen Hubwagen mit zwei Scheren geschoben worden, mehrere Mechaniker machten sich im Schein von Stablampen und elektrischen Leuchten an dem Container zu schaffen. Während er sich mit einem der Japaner im Blazer, der sich zu ihm gestellt hatte, unterhielt, überwachte der Frachtmanager die Arbeiten. Marie beobachtete das Geschehen aus der Entfernung, als sich langsam auch die vordere Tür der Boeing öffnete. Über dem Abgrund erschien einer der Piloten, seine uniformierte Gestalt zeichnete sich scharf in der Türöffnung ab. Eine Treppe wurde angestellt, und Christophe de G. und Marie konnten mit dem Einladen des Gepäcks beginnen. Als sie die letzten Taschen vom Teerboden aufgesammelt hatten und die Treppe emporstiegen, im Begriff, endgültig das Flugzeug zu besteigen, sahen sie neben sich die Box des Pferdes schwerelos in der Luft schweben – mit dem lebendigen Vollblut darin – und sich langsam in der Nacht am Rumpf der Boeing
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