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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Leiden, leicht, widerwärtig, und nicht einmal ein Leiden, nur eine einfache Übelkeit, eben, unbeweglich, unendlich. Nichts ereignete sich. Nichts, nur die Wirklichkeit dauerte an.
    Zahir kannte keinen anderen Zustand des Bewusstseins als die Gewissheit, da zu sein, er besaß diese stille, wortlose und unfehlbare Gewissheit eines Tiers. Alles, was außerhalb seines Containers stattfand, war ihm unbekannt, der Himmel, die Nacht und das Universum. Seine Vorstellungskraft erschöpfte sich an den Wänden vor ihm, dort endete sein Denken und schnellte wieder zurück in die Nebelhaftigkeit seines eigenen Bewusstseins. Als würde Zahir geistige Scheuklappen tragen, die ihn daran hinderten, die Welt jenseits seines Blickfeldes zu begreifen, die ihn nach allen Seiten hin begrenzten, schwarz, blind, metallisch. Er war außerstande, die stofflichen Grenzen seiner Box zu überwinden, sich mittels seiner Vorstellungskraft in die Nacht hineinzudenken, durch die die Boeing flog, er kannte nicht das uralte Verlangen, immer wieder die Grenzen zu überschreiten, um darüber hinausschauen zu können, und selbst einmal angenommen, es wäre ihm gelungen, es wäre ihm tatsächlich gelungen, sich kraft seiner Vorstellung durch die Bordwand des Flugzeugs hinauszudenken – die vernietete Haut des Flugzeugs zu durchbrechen –, er wäre sofort, alle vier Hufeisen in die Luft gestreckt, vom Himmel gestürzt, ein Ikarus, der sich die Flügel verbrannte, als er aus dem Traum, den er träumte, aufwachen wollte.
    Denn Zahir lebte ebenso in der Wirklichkeit wie in der Phantasie, in diesem Flugzeug hier im Flug ebenso wie in den Nebeln eines Bewusstseins oder eines unbekannten, dunklen, bewegten Traums, in dem die Turbulenzen des Himmels die Leuchtfeuer der Sprache sind, und auch wenn in der Wirklichkeit Pferde nicht kotzen, nicht kotzen können (es ist ihnen rein physisch unmöglich, zu kotzen, ihr Organismus erlaubt es ihnen nicht, selbst wenn ihnen speiübel ist, selbst wenn ihr Magen mit toxischen Substanzen vollgepumpt ist), war Zahir in dieser Nacht am Ende seiner Kräfte, er taumelte in seiner Box, fiel auf die Knie ins Stroh, die Mähne klebte am Kopf, das Fell war zerzaust, aufgerieben und mit einer übelriechenden Schicht getrockneten Schweißes bedeckt, sein Kiefer war taub, seine teigige Zunge kaute ins Leere, er sonderte sauren, schwitzigen Speichel ab und verlor erneut das Gleichgewicht, er fühlte sich schlecht, versuchte, sich wieder in seiner Box aufzurichten, machte auf seinen schlotternden Beinen einen Schritt zur Seite, konnte sich kaum halten, war kurz davor, in der Box bewusstlos zusammenzubrechen, fiel wieder in Zeitlupe auf die Knie, sackte mit gebogenen Vorderläufen in sich zusammen. Mit drückendem Magen, gebläht durch die Gärung, fühlte er, wie sein Futter ihm den Magen hochstieg, kalter Schweiß ertränkte ihm seine Schläfen, und plötzlich verspürte er diese so konkrete physische Nähe zum Sterben, die man dann verspürt, wenn man kurz davor ist, sich zu übergeben, wenn dieser schauderhafte saure Speichel, der in den Mund steigt und das unmittelbare Bevorstehen des Erbrechens ankündigt, wenn sich die Eingeweide verkrampfen und der Mageninhalt plötzlich den Hals überschwemmt und in den Mund schießt, so fing Zahir in dieser Nacht, während dieses Nachtflugs im Frachtraum der Boeing 747, ungeachtet seiner Natur, ein Verräter seiner Spezies, zu kotzen an.
    Schon am Tag des Rennens hatte sich Zahir unwohl gefühlt. Angesichts seiner ungewohnten Nervosität hatte sich der Trainer entschieden, ihm Blinkers aufzusetzen, jene schwarze Lederkapuze, die wie eine Eisenmaske über den Kopf des Pferdes gestülpt wird und die Ohren freilässt, wegen der Plastikschalen an den Seiten kann es nur nach vorne blicken. Bei der Präsentation der Pferde im Führring war der in seinem Sehen behinderte Zahir nicht zu bändigen, er hatte Kopf und Hals hin- und hergeworfen, im Versuch, sein Sichtfeld zu erweitern. Eine dichte Zuschauermenge drückte sich vor der Absperrung des Paddocks, in dem die Pferde im Schritt durch den gräulichen Sprühregen defilierten, mit auf den Rücken geworfenen Decken, an der Kandare geführt durch ihre kostümierten Pferdeburschen: Zahir, schwarz, kraftvoll, nervös, machte eine Dummheit nach der anderen, er unternahm brüske Ausfallschritte, tanzte auf der Stelle, stampfte in der Allee mit seinen Hufen ungestüm auf den Boden, wurde wieder von seinem Burschen eingefangen, der ihn niemals in solch

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