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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Fensterluke, die ein feiner, immer wieder nachfließender Film aus Regen überströmte. Stark irisierende Lichter, weiß und gelb, manchmal auch rot, dauerhaft oder aufblitzend, waren in der Nacht zu erkennen. Die Positionsleuchten auf den Spitzen der Flughafengebäude und die Markierungen der Start- und Landebahnen auf dem Boden mischten sich mit den hell aufleuchtenden Scheinwerfern, die das Flugzeug zum Start angeschaltet hatte und durch die der Regen in Sturzbächen fiel.
    Jean-Christophe de G. hatte die Tür der Pferdebox entriegelt und war zum Pferd hineingegangen. Zahir bewegte sich nicht, hielt seinen Kopf gesenkt und schien ruhig in seiner Box zu sein, seine Augen waren nicht mehr verbunden, und man hatte ihm auch das dicke Hanfseil abgenommen, mit dem sein Vorderlauf gefesselt worden war. Auf seinem Rücken lag eine kurze Veloursdecke, und seine Fesseln waren immer noch so dezent durch diese lächerlichen, mit Schmutz und Schlamm bespritzten Neoprenbändchen geschützt, voller Spuren bräunlichen Spritzwassers in Folge seiner Flucht. Jean-Christophe de G. blieb keine Zeit, die Verletzung zu untersuchen, durch einen Lautsprecher kam eine Ansage, kurz und schroff, kaum zu verstehen durch das Knacken und Knistern, und das Flugzeug setzte sich in Bewegung, begann auf der Startbahn Geschwindigkeit aufzunehmen, es zitterte an allen Ecken und Enden, die Tür der Pferdebox schlug hin und her, Marie versuchte sie festzuhalten, die gesamte Ladung im Frachtraum wurde durchgeschüttelt, ein allgemeines metallenes Geklirr und Geklapper von Gurten und Ketten, von Halterungen und Bandeisen, Spannseilen und Verschlüssen brach los.
    Jean-Christophe de G. hielt Zahir fest am Zaumzeug, sein Gesicht war an die Halsmulde des Pferdes gepresst, mit leiser Stimme sprach er auf es ein, um es zu beruhigen. Das Pferd, durch das Aufheulen der Triebwerke und den weiter anschwellenden Lärm, der im Frachtraum herrschte, verängstigt, schlug aus, machte einen Sprung zur Seite, schüttelte den Kopf. Das Flugzeug gewann immer mehr an Tempo, im Dunkel draußen vor den Fensterluken des Frachtraums flogen die Lichterketten in immer höherer Geschwindigkeit vorbei, und als die Boeing 747 Cargo sich in einem letzten unwiderstehlichen Schub vom Boden losriss und zu fliegen begann, wäre Marie fast aus dem Gleichgewicht gekommen, für einen Moment verlor sie die Orientierung, sie verspürte kurz den Drang, wieder ans Oberdeck zu gehen und sich anzuschnallen. Sie machte einige unsichere, schwankende Schritte mit ausgebreiteten Armen durch die Finsternis des Frachtraums in Richtung der Klappe, die nach oben führte, kehrte jedoch wieder um, sich bewusst, dass sie es allein nie würde schaffen können. Die Boeing wurde im Steigflug hart durchgeschüttelt. Die Maschine mühte sich, im Kampf gegen die mit voller Wucht entgegenströmenden Massen feindlicher Luftwirbel ihre Lage zu halten, gewann durch den Schub ihrer Triebwerke immer weiter an Höhe. Vom Wind durchgerüttelt, durchstieß sie die dicken Regenwolken, stürmisch peitschte der Regen gegen den Flugzeugrumpf. Draußen grollte der Donner, Blitze leuchteten grell vor den Fensterluken und zeichneten in beunruhigendem Zickzack weiße Streifen an die Decke des Frachtraums.
    Etwa zehn Minuten nach dem Start erlaubten es Marie die ruhiger gewordenen atmosphärischen Bedingungen, wieder zu Jean-Christophe de G. in die Pferdebox zu gehen. Das Pferd verhielt sich ruhig, es war festgebunden und wirkte niedergeschlagen, wie durch ein starkes Beruhigungsmittel betäubt. Marie schlängelte sich ins Halbdunkel der Box an dem Vollblut vorbei. Es war ein dunkler und enger Metallcontainer, dessen elegante, blau gesteppte Polsterung Feuchtigkeit ausschwitzte und dessen harter Gummiboden zum Teil mit einer dicken Schicht Stroh bedeckt war, in dem die Schuhe versanken. Das Flugzeug setzte seinen Anstieg fort, um seine Reiseflughöhe zu erreichen. Die Turbulenzen hatten noch nicht aufgehört, Jean-Christophe de G. musste sich, während er die Verletzung des Pferdes mit Hilfe einer Taschenlampe untersuchte, immer wieder mit einer Hand an der Wand der Box abstützen. Er besaß nicht wirklich die Kenntnisse eines Veterinärs, hatte aber früher schon das eine oder andere Mal selbst seine Pferde verarztet, einen Verband angelegt oder ihnen eine Spritze verabreicht. Der Vorderlauf von Zahir war aufgeschlagen, das Fleisch lag offen, die Haut war aufgeplatzt und hing in kleinen, gezackten Fetzen an der Wunde.

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