Die Wahrheit über Marie - Roman
Danach begaben sich die Pferdebesitzer wieder in ihre Privatsalons zurück, verweilten in ihren Logen. Eine Schar von Hostessen verbeugte sich vor ihnen, neigte, wenn sie vorübergingen, vor ihnen feierlich den Kopf, während die Pferdebesitzer sich am Buffet ein Glas holten oder sich auf einem der vielen Monitore in den Salons nochmals in Endlosschleife die Wiederholung des Rennens anschauten.
Im Führring war die Vorstellung der Pferde beendet, und die Jockeys verabschiedeten sich von den Besitzern der Pferde. In der Allee warteten die Jockeys auf ihre Pferde, liefen dann erst einen Augenblick neben ihnen her, bevor sie sich mit einem Schwung geschmeidig, gelenkig und federleicht in den Sattel warfen, aus der Runde formte sich eine Linie, die Jockeys waren jetzt alle im Sattel, wurden aber noch immer von der Hand ihrer Burschen geführt, Marie betrachtete den Jockey, der Zahir ritt, ein irländischer Jockey in den Farben des Gestüts von Ganay, mit gelber Rennjacke und grüner Rennkappe. Er schloss gerade den Kinnriemen an seinem Helm, seine Beine hingen frei an der Seite des Pferdes, die Stiefel waren noch nicht in den Steigbügeln. Am Ausgang des Paddocks liefen die Pferde in Richtung der Startboxen, machten einen leichten Aufgalopp auf der Rennstrecke, die in den Steigbügeln stehenden Jockeys schienen über ihren Sätteln in der Luft zu schweben.
Die Pferdebesitzer verließen bereits den Paddock, auch Jean-Christophe de G. und Marie beeilten sich, um sich durch die Menschenmenge einen Weg zurück zu den Tribünen zu bahnen und wieder in ihre Loge zu gelangen. Sie betraten die ausgedehnte Eingangshalle des Erdgeschosses und durchquerten mit weiten Schritten den verrauchten Saal mit den Wettschaltern, vorbei an verschlossenen Gesichtern, kurzen Lederblousons, geschäftigen Gestalten, im Schmutz aus Feuchtigkeit und Regen und auf dem Boden herumliegenden Wettscheinen abgelaufener Rennen, über Pappteller und zerfetzte Rennzeitungen, die in verblichenen Farben ganzseitige Fotos von Jockeys zeigten, darüber fette Schlagzeilen aus japanischen Schriftzeichen. Hunderte standen noch an den unzähligen Wettschaltern und warteten, dass sie drankamen, warfen immer wieder nervöse Blicke auf die Monitore, die über die aktuellen Quoten der Rennteilnehmer informierten, blätterten dabei in ihrem Programmheft und kreuzten einen Pferdenamen an. Andere saßen mit ausgezogenen Schuhen und aufgeknoteter Krawatte auf dem Boden und aßen, ohne die Bildschirme aus den Augen zu lassen, die Schuhe fein säuberlich vor ihnen aufgestellt, klebrigen Reis mit Stäbchen und schlürften bräunlichen Tee aus kleinen Plastikfläschchen. In der Eingangshalle herrschte ein nicht enden wollendes Stimmengewirr und ein Geruch nach Regen und feuchtem Tabak, der sich mit dem Küchengestank von karamellisierten Saucen und Soja vermischte. Jean-Christophe de G. und Marie hatten die Rolltreppe erreicht, die in die zweite Etage führte, dort nahmen sie eine weitere Rolltreppe zur dritten Etage. Aus den Lautsprechern des Hippodroms ertönten ununterbrochen Ansagen auf Japanisch. In den oberen Stockwerken waren die Räumlichkeiten heller und weniger verraucht, die Menschenmenge, die ihnen auf den Gängen hier begegnete, war übersichtlicher. Wie in einer Shopping Mall erstreckte sich hier ein labyrinthisches System von Gängen und Laufstegen aus Glas, überlagerten sich Brücken, reihten sich Cafés, Restaurants und Souvenirläden aneinander. Eine letzte, private Rolltreppe führte zu den Salons der Offiziellen und der Eigentümer. Der privilegierte Zugang war durch ein dreiarmiges Drehkreuz aus Metall geschützt, über das in kleine rosafarbene Kostüme gekleidete Hostessen wachten. Jean-Christophe de G. steckte eine Magnetstreifenkarte in das Drehkreuz und durchschritt mit Marie das Hindernis. Langsam ließen sie sich, Seite an Seite auf den Stufen der schmalen, privaten Rolltreppe stehend, zu den VIP-Räumen des Hippodroms emportragen, warfen noch einen letzten, kurzen Blick auf das rege Leben und Treiben unter ihnen, als Marie mich in der Menge entdeckte.
Sie entdeckte mich, da, in einem der Gänge stehend. Sie ließ sich nichts anmerken, machte nicht einmal eine Geste, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Es waren jetzt mehrere Tage vergangen, seit ich aus ihrem Leben verschwunden war und sie keinerlei Nachricht von mir erhalten, sie nicht einmal gewusst hatte, ob ich überhaupt noch in Tokio war. Doch es bestand kein Zweifel, das war ich, sie
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