Die Wahrheit über Marie - Roman
zusammengeklappt an der Hauswand, immergrünes Geißblatt kletterte an der Fassade hoch und klammerte sich in die Risse des unebenen Gesteins. In den Tontöpfen, in denen ihr Vater Kräuter angepflanzt hatte, Thymian, Salbei, Rosmarin, war nur noch verkrustete, gräuliche, völlig ausgetrocknete und aufgesprungene Erde, ein Basilikumpflänzchen war den Töpfen entkommen, hatte in der Erde des Gartens überlebt, zwischen Brombeeren und kräftigen, jungen Palmentrieben, die hier und da in den Ecken des Gartens ihre grünen und dicht gewachsenen Blätter aufschießen ließen. Von den Tomaten ihres Vaters war nichts mehr zu sehen – die letzten Tomaten ihres Vaters, die sie im vergangenen Jahr, voller Tränen allein in der Küche sitzend, gegessen hatte –, nur ein paar einsame, verbogene Stangen standen in unregelmäßiger Linie Spalier. Marie näherte sich dem Mauerwerk, kniete sich mit einem Bein auf den Boden und entdeckte um ein Schilfrohr gewickelt ein kleines Stück durchgescheuerte, ausgebleichte Schnur, die ihr Vater benutzt hatte, um die Tomatenpflanzen hochzubinden. Sie löste vorsichtig den Knoten, der die Schnur an der Stange hielt, betrachtete es längere Zeit und band das Stück dann um ihr Handgelenk.
Nachdem sie sich gewaschen hatte, bereitete Marie sich einen Tee, den sie auf der Terrasse im Stehen aus einer großen Schale trank, danach ging sie auf der Suche nach Werkzeugen in den Schuppen. In dem Durcheinander, das in den Regalen des Abstellraums herrschte, fand sie, was sie brauchte, nahm eine Schubkarre und kehrte mit Hacke und Rechen und einer Gartenschere, die wie ein Kamm in der hinteren Hosentasche steckte, in den Garten zurück. Im Garten machte sie sich an die Arbeit, durchtrennte die Lianen, stutzte mit der Schere die Brombeerhecken. Sie trug einen alten Strohhut ihres Vaters, Jeans, ein weißes Hemd und ziemlich kitschige, mit einer Plastikmargerite verzierte Sandalen, die an der Kommissur der großen Zehe erblühte. Dort, wo ihr Vater die Tomaten angepflanzt hatte, säuberte sie die Erde, riss mit der Hand das Unkraut heraus und entfernte die wilden Disteln. Auf Zehenspitzen stehend, schnitt sie Lianen aus dem Geißblatt, darauf achtend, dass dessen Ranken, die sie vorsichtig von der Fassade gelöst hatte, um sie auf dem Spalier weiterwachsen zu lassen, nicht zerstört wurden. Dann, langsam an der Umzäunung entlangschreitend, goss sie den Garten, wobei sie den gelben, aufgerollten Schlauch nachdenklich hinter sich herzog, der ihr nachkroch wie eine artige, gezähmte Schlange.
Die Pferdekoppel unterhalb des Anwesens stand seit dem vergangenen Sommer leer. Marie durchquerte das alte Gatter und stieg hinunter auf das terrassierte Gelände, das früher einmal bewirtschaftet worden war, nun aber verwahrlost dalag, welliger, unebener und steiniger Boden, ein paar Grasbüschel wucherten hier und dort zwischen zusammengefallenen Mauerresten. Nach etwa hundert Metern blieb sie stehen, unter ihr lag das Meer, blau, glatt, unbeweglich, eine kaum wahrnehmbare Dünung kräuselte manchmal die Oberfläche und ließ sie erzittern. Am Horizont verband sich der Himmel mit dem Meer, die beiden Blaus schmolzen ineinander, das tiefe Blau des Meers mit dem blasseren des leicht dunstigen Himmels. Kein Geräusch war um sie herum zu hören, nur die Stille der Natur, ein fernes Zwitschern von Vögeln, der Flug eines Schmetterlings, eine schwache Brise bog träge das hohe Gras auf dem Anwesen.
Marie verbrachte den Sommer allein auf Rivercina. Wenn sie am späten Nachmittag vom Strand zurückkam, wusch sie sich im kleinen Garten die Haare, stand im Badeanzug an den Zaun gelehnt mit bloßen Füßen auf der Erde oder auf einem blauen Gitterrost, die Haare eingehüllt in weißen, nach Vanille riechenden Schaum, den sie mit den Fingerspitzen unter dem lauwarmen Wasser des Gartenschlauchs auswusch. Sie beugte sich hinunter, um den Wasserhahn abzudrehen, und wickelte die Haare, nachdem sie sie ein letztes Mal mit zu Boden gesenktem Nacken gründlich hatte abtropfen lassen, in ein großes weißes Handtuch. Sie ging zum Haus zurück, ließ ihre Sandalen, in die sie nur nachlässig geschlüpft war, über die unregelmäßigen Bodenplatten der Terrasse schleifen. Sie streifte nacheinander die Träger ihres Badeanzugs von den Schultern, ließ den Anzug über die Hüften hinabgleiten und ihn da, auf dem Boden der Küche, achtlos liegen, stieg nackt die Treppen hoch, mit ihrem weißen Turban und ihren Sandalen an den Füßen,
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