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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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hatte mich an meiner Figur erkannt, im Profil, im Gang, mit einem Pappschälchen mit Tako-Yaki in der Hand, die ich etwas abseits der großen Menge im Begriff war, mit Stäbchen zu essen. Die Tako-Yaki dampften leicht in ihrem Schälchen, sie waren mit einer Schicht von feingeriebenen Daikon-Schalen überzogen, winzige, von der Hitze aufgerollte, bräunliche Späne.
    Was tat ich da? Ich hätte mich niemals an diesem Ort befinden dürfen, die Wahrscheinlichkeit, dass ich an diesem Tag zu einem Pferderennen in Tokio gehen würde, war winzig (ich war an diesem Morgen zufällig auf einen Artikel der Japan Times gestoßen, der die Veranstaltung ankündigte), und die Wahrscheinlichkeit, dass Marie zur selben Zeit wie ich dort sein würde, war gleich null. Und doch war ich, völlig unvorbereitet, plötzlich mit Maries Anwesenheit konfrontiert, auch ich hatte sie erkannt, hatte sie nur etwa zwanzig Meter von mir entfernt stehen sehen, bewegungslos auf den Stufen der Rolltreppe in Begleitung eines Herrn, den ich nicht kannte, eines Herrn, der älter war als sie, bekleidet mit einem eleganten dunklen Mantel und einem Kaschmirschal. Sie hatte sich nicht bei ihm untergehakt, aber sie war mit ihm zusammen, das stach mir ins Auge, sie war in aller Heimlichkeit mit ihm zusammen, und sie war in aller Offenheit mit ihm zusammen, die geringe Entfernung, die sie voneinander trennte, war verräterischer, als jede Berührung es hätte sein können, aber sie berührten sich nicht, sie streiften sich an ihren Schultern, ein winziger Abstand blieb zwischen ihren Mänteln. Ich betrachtete Marie, und ich begriff, dass ich nicht mehr da war, dass es jetzt nicht mehr ich war, der mit ihr zusammen war, ich sah vor mir das Abbild meiner Abwesenheit, aufgedeckt durch die Anwesenheit dieses Mannes. Ich hatte ein unabweisbares Abbild meiner eigenen Abwesenheit vor Augen. Als würde mir schlagartig ein visuelles Bewusstsein darüber zuteil, dass ich seit einigen Tagen aus dem Leben von Marie verschwunden war, und dass ich mir erst jetzt vor Augen führen ließ, dass sie ihr Leben weiterlebte, auch wenn ich nicht mehr bei ihr war, dass sie ihr Leben in meiner Abwesenheit lebte – und aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben jetzt noch intensiver lebte, weil ich ununterbrochen an sie dachte.
    Unsere Blicke trafen sich, und ich machte einen Schritt zu ihr hin, wurde aber von dem Drehkreuz aufgehalten, und ich verstand sofort, dass es da für mich zu Ende sein würde, es wäre nicht einmal die Mühe wert gewesen, die Hostessen um Erlaubnis zu bitten. Ich suchte weiter die Augen von Marie, von Marie, die sich von mir entfernte, die reglos dastand und sich doch auf den Stufen der Rolltreppe von mir entfernte, wie die Gefangene einer anästhesierten Wirklichkeit, Marie, die gelähmt war und unfähig, die Treppe in entgegengesetzter Richtung herunterzulaufen, um wieder zu mir zu kommen, gegen alle Konventionen zu verstoßen, sich am Handlauf festhaltend, die nach oben rollende Treppe hinabzulaufen, um mir hier unten vor den Augen der fassungslosen Zuschauer in die Arme zu fallen. Ich sah, wie Marie im bedächtigen Tempo der emporfahrenden Rolltreppe sich von mir entfernte – Marie unbeweglich, Verzweiflung in den Augen –, ich konnte sie nicht aufhalten, ich konnte nicht zu ihr hin, ich saß am Fuß der Rolltreppe fest, und sie konnte nicht zu mir, machte mir kein Zeichen, nur ein verlorenes, trauriges Gesicht, das sich auf der vor mir emporsteigenden Rolltreppe entfernte. Ich sah zu, wie sie sich von mir entfernte, und hatte das Gefühl, als ich sie so in die Höhe steigen sah, dass sie im Begriff war, an ein anderes Ufer überzusetzen, dass sie einem Jenseits zutrieb, einem unsagbaren Jenseits, einem Jenseits der Liebe und des Lebens, dessen rötliche Tiefen am oberen Ende der Rolltreppe hinter den gepolsterten Pforten der Privatsalons des Hippodroms ich nur erahnen konnte. Die Rolltreppe brachte sie in diese geheimnisvollen Gefilde, zu denen ich keinen Zutritt hatte, die Rolltreppe war das Vehikel ihrer Überfahrt, ein vertikaler Styx – geriffelte Metallstufen, ein Handlauf aus schwarzem Gummi –, mit dem sie fortgetragen wurde ins Reich der Toten.
    Marie bewegte sich nicht, mit verschleierten, starren, abwesenden Augen ließ sie sich von der Treppe forttragen, ohnmächtig, traurig, passiv, ich ließ sie nicht aus den Augen, umrundete die Rolltreppe, lief seitlich daneben her, um wenigstens die Entfernung, die uns trennte, nicht größer werden zu

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