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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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lassen, aber ich spürte, wie sie sich unwiederbringlich weiter von mir entfernte, ich verfolgte sie weiter mit meinen Blicken, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, ich spürte, dass sie dabei war, sich mir für immer zu entziehen, aber auch ich tat nichts, um zu ihr zu gelangen, ich machte keinerlei Anstalten, das Hindernis des Drehkreuzes mit Gewalt zu überwinden, zu versuchen, sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. In diesem Moment war ich der festen Überzeugung, es sei das letzte Mal gewesen, dass ich sie gesehen hatte, ich sah zu, wie sie langsam auf der Rolltreppe entschwand, und mich überkam das Verlangen, sie noch einmal in die Arme zu schließen für ein allerletztes Adieu. Ich hatte in diesem Augenblick die untrügliche Gewissheit, dass, wenn Marie jetzt aus meinem Leben verschwinden würde, wenn sie die Schwelle dieser schweren, gepolsterten Türen der Privatsalons des Hippodroms überschreiten würde, dies das letzte Mal gewesen wäre, dass ich sie gesehen hätte – und dass sie sterben würde (nur wusste ich damals noch nicht, dass, auch wenn meine furchtbare Vorahnung sich in den kommenden Monaten bestätigen würde, es nicht Marie sein sollte, die sterben würde, sondern der Mann, der sie begleitete).

#
    III
    Zu Beginn des folgenden Sommers war Marie nach Elba gefahren. Ihr Vater war ein Jahr zuvor gestorben, und seit dem letzten Sommer hatte sich nichts im Haus auf Elba getan, ein Jahr lang war sie nicht mehr dort gewesen, und die Fensterläden waren seit ihrer Abreise ständig geschlossen geblieben. Marie hatte ein im Stich gelassenes Haus vorgefunden, dunkel und still, in dem die Luft stickig war und nach Staub und feuchtem Holz roch. Sie hatte schmerzhafte Entscheidungen treffen müssen, musste Schlafzimmer und Arbeitszimmer des Vaters ausräumen. Beim Ordnen der Papiere war sie auf Fotografien gestoßen, hatte gerührt alte Briefe, Dokumente und Arbeitsnotizen angeschaut, hatte die Schränke geleert, ihr Gesicht in die Wolle eines Pullovers vergraben, um für einen winzigen Augenblick den Geruch ihres Vaters wiederzufinden. Sie hatte es mit Entschlossenheit angepackt, ohne einmal weinen zu müssen, und wenn doch, dann waren es fast trockene Tränen gewesen, die sich mit Schimmel und Staub mischten. Ihre Augen waren gerötet und juckten, als hätte sie Asthma, und sie zog sachte die Nase hoch, ließ das leichte, salzig-transparente Wasser über ihre Wangen rinnen.
    Marie hatte den Entschluss gefasst, in den ersten Stock, in das Schlafzimmer ihres Vaters zu ziehen. Sie öffnete die Fenster weit und ließ frische Luft herein, sie wischte mit viel Wasser den Holzboden, im schönen Licht eines Julimorgens, das sich auf dem nassen Boden des Schlafzimmers spiegelte. Sie machte das Bett, wählte ein Set alter Batistlaken aus, die sie liebte, rustikal und rau scheuerten sie auf der Haut, sie packte die Sachen ihres Vaters in Kisten und Koffer, die sie auf den Flur der Etage stellte. Aus Paris hatte sie Stoffe mitgebracht, um sie gegen die alten Vorhänge und den Bettüberwurf des Vaters auszutauschen, ein ganzes Sortiment in Blau und Grün, den Farben von Rivercina, Türkis und Pastell, Azur und Hellgrün, Ultramarin, Olivgrün, als mögliche Kombinationen des apokryphen Wappens des Hauses Montalte auf Elba (mit der Eidechse als Wappentier, ihr Vater kam eines Tages auf diese Idee, als er sich auf der Terrasse faulenzend zusammen mit Eidechsen von der Sonne bescheinen ließ). Marie stieg auf einen Stuhl und hängte die Vorhänge an große Holzringe der Vorhangstange, und von der ersten Nacht an schlief sie im Schlafzimmer ihres Vaters.
    Am nächsten Morgen war Marie früh aufgewacht, in einem blassblauen Licht, das durch die Vorhänge drang. Es war gerade erst hell geworden, als sie barfuß ins Erdgeschoss hinunterging. Sie spazierte durch das schlafende Haus und trat in das schwache Licht des Morgengrauens auf die Terrasse, barfuß, unter ihrem weiten weißen T-Shirt nackt. Die Morgenluft war kühl, sie spürte, wie die Luft ihr Gesicht und ihre Schenkel belebte. Sie ging um das Haus herum zu dem kleinen Garten, den sie aus Zeitgründen noch nicht hatte besichtigen können. Es war der kleine Garten ihres Vaters, den Eingang schützte eine verrostete blaue Gittertür, die quietschte, als sie sie aufstieß. Der Garten war noch in ein sanftes graues Licht getaucht, Brombeergestrüpp und verschlungene Lianen überwucherten wie wildwachsende Tarnung die Vegetation. Zwei alte Holzliegestühle lehnten

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