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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Eukalyptuszweigen, kombiniert mit einer purpurroten Bougainvillearebe, die sie von der Terrasse einer Villa am Strand mitgenommen hatte.
    Kurz bevor sie Portoferraio erreichte, bog Marie in eine kleine Straße ab, die sich kurvenreich bis zu dem Friedhof emporschlängelte, auf dem ihr Vater begraben lag. Dort angekommen, blieb sie eine Weile unbeweglich und in stiller Andacht vor seinem Grab stehen. Sie legte den Strauß wilder Blumen auf das Grab ihres Vaters und verließ den Friedhof, ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg wieder in den Wagen und fuhr weiter Richtung Portoferraio. In der Stadt angekommen, lenkte sie den Wagen zum Hafen, die Augen im Vagen, schaute sie angestrengt durch die verklebte Windschutzscheibe, durch eine dicke Schicht von Staub und Harz, das von den Pinien stammte, unter denen der alte Laster den Winter verbracht hatte. Langsam fuhr Marie längs der Hafenanlagen und stellte den Wagen vor den Büros der Hafenmeisterei ab. Sie stieg aus und verließ zu Fuß wieder das Hafengelände, um am Tresen eines der vielen geöffneten Cafés am Platz, von denen aus man die Anlegestellen überblicken konnte, einen Espresso zu trinken. Sie trank ruhig ihren Kaffee, es war fast Mittag, sie sah wunderschön aus, sie trug eine weiße Hose und eine ausgewaschene blassviolette Bluse und beobachtete das Kommen und Gehen der Schiffe im Hafen. Nach etwa zwanzig Minuten fuhr die Fähre aus Piombino im Hafen ein, und da war ich, an Deck des Schiffes.
    Es war das erste Mal seit letztem Sommer, dass ich wieder nach Elba kam, ziemlich genau ein Jahr nach dem Tod von Maries Vater. Ich hatte dieselbe Fähre der Reederei Toremar genommen wie im vergangenen Jahr, als ich aus China gekommen war, um der Beerdigung ihres Vaters beizuwohnen. Kaum hatte das Schiff abgelegt, verkroch ich mich in einen der festen Sitze mit Armlehnen aus Metall in einem der geschützten Salons auf dem Zwischendeck und ließ dort im schwülheißen Schatten meine Gedanken schweifen. Ich war schließlich eingenickt und dämmerte, gewiegt durch das ständige Brummen des Schiffsmotors, vor mich hin, als die Ereignisse der Nacht des Todes von Jean-Christophe de G. in meinem Bewusstsein auftauchten, ohne dass ich sie mittels vorsätzlicher Anstrengung meines Gedächtnisses wieder heraufbeschworen hätte. Nein, nur bruchstückhaft erlebte ich sie in meinem Dämmerschlaf, in meinem Geist tauchten einige Mutmaßungen auf – Hypothesen und Bilder –, wobei gleich verschiedene Bereiche meines Gehirns in Anspruch genommen wurden, je nachdem, ob ich mittels Überlegung Hypothesen entwickelte oder träumerisch Bilder heraufbeschwor. Zu den wenigen unbestreitbaren und überprüfbaren Tatsachen dieser Nacht fügte ich rein Erfundenes hinzu, das ich freizügig in meine Träume einbaute, ich kombinierte so in meinem Halbschlaf erfundene Fakten mit realen Orten, versetzte mich in Gedanken in das Appartement der Rue de La Vrillière, in dem ich mehr als fünf Jahre mit Marie gelebt hatte, ging dort von Zimmer zu Zimmer, öffnete das Schlafzimmerfenster und entdeckte die Hausfassade der Banque de France gegenüber, die im gelben Licht der Pariser Straßenlaternen erstrahlte, wo ich mich doch jetzt, in diesem Moment, im Sessel eines Schiffes befand, das zwischen dem italienischen Festland und der Küste Elbas geräuschlos über ölglattes Meer fuhr.
    Natürlich wusste ich, dass es zweifellos eine objektive Realität der Fakten gab – also das, was wirklich in dieser einen Nacht im Appartement der Rue de La Vrillière geschehen war –, dass aber genau diese Realität mir immer fremd bleiben würde, ich diese Realität immer nur umkreisen, sie von verschiedenen Seiten her betrachten, sie einkreisen könnte, um sie dann nochmals zu attackieren, sie mir aber verschlossen bliebe, als ob das, was in jener Nacht wirklich passiert war, mir wesentlich unerreichbar wäre, außerhalb der Reichweite meiner Vorstellungskraft und auch durch Sprache nicht erschließbar. Natürlich könnte ich, und das mit der Präzision eines Traums, diese Nacht in Bildern meiner Vorstellung wieder erschaffen, natürlich könnte ich diese Nacht mit der teuflischen Kraft von Worten heraufbeschwören, doch war mir bewusst, dass ich niemals in Besitz dessen kommen könnte, was für einige Augenblicke das Leben selbst gewesen war, bis mir plötzlich der Gedanke kam, dass ich vielleicht eine völlig neue Wahrheit gewinnen könnte, eine, die sich von dem, was das Leben wirklich war, nur inspirieren

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