Die Wahrheit über Marie - Roman
ließe, sie aber, ohne sich um Wahrscheinlichkeit oder Wahrheitsgehalt zu kümmern, transzendieren würde, und die nur auf die Quintessenz der Wirklichkeit zielte, auf ihr empfindliches, lebendiges, sinnliches Mark, eine Wahrheit nahe der Erfindung, einen Zwilling der Lüge, die ideale Wahrheit.
Gegen Ende der Überfahrt, als die Fähre sich bereits der Küste von Elba näherte, begannen meine Gedanken abzuschweifen, und ich dachte an eine andere Nacht, von der mir Marie erzählt hatte, die Nacht ihrer Rückreise aus Japan. Ich war physisch nicht bei ihr gewesen in dieser Nacht, sah aber hinter meinen geschlossenen Augen die Ereignisse sich auf dieselbe Art abspielen, mit allen Hauptakteuren, die sich namen- und gesichtslos in meinem Bewusstsein materialisierten und Gestalt gewannen und doch weder Erfindungen noch Chimären waren, sondern wirkliche Personen, die in Wirklichkeit das erlebt haben mussten, was ich sie in meiner Vorstellung erleben sah. Eingelullt von dem hypnotisierenden Geräusch der Schiffsmotoren, sah ich sie in meiner Vorstellung, wie sich diese Figuren in aller Stille vor mir bildeten, und auch wenn ich bei diesen Szenen, die sich hinter meinen geschlossenen Augen abspielten, selbst nicht dabei war, auch nicht deren Adressat gewesen war, auch wenn ich zwischen den andern Figuren nicht leibhaft auftauchte, wusste ich mich doch auf das Intimste anwesend, und nicht nur, weil ich die einzige Quelle der Anrufung darstellte, die gerade im Gange war, sondern weil ich im Innersten jeder dieser Personen lebte, mit jeder mich intimste Bande verknüpften, verborgene Verbindungen, privat, geheim, uneingestehbar – weil ich genau so sehr ich selbst war, wie ich jeder von ihnen war.
Die nur lückenhafte Kenntnis, die ich über die Todesnacht von Jean-Christophe de G. hatte, die zahlreichen dunklen Stellen, was die tatsächlichen Ereignisse dieser Nacht betrifft, waren mir in keiner Weise von Nachteil. Im Gegenteil, sie verpflichteten mich zu einer umso größeren erfinderischen Anstrengung, um die Ereignisse geistig wiederzuerschaffen, während ich im anderen Fall, also, hätte ich sie wirklich erlebt, mich nur einfach an sie erinnert hätte. Ich war in dieser Nacht nicht dabei gewesen, aber meine Gedanken waren bei Marie, und zwar mit derselben emotionellen Intensität, als wenn ich zugegen gewesen wäre, wie bei einer Aufführung, die ohne mich stattfindet, bei der ich selbst abwesend, alle meine Sinne aber anwesend sind, wie in den Träumen, in denen jede der auftauchenden Personen immer nur eine Emanation von einem selbst ist, neu erschaffen durch das Prisma unserer Subjektivität, geprägt von unserer Sensibilität, unserer Intelligenz und unseren Phantasien. Auch wenn ich nicht schlief, war es das unauflösbare Mysterium des Traums, das in mir wirkte und spielte, ein Mysterium, das dem Bewusstsein ermöglicht, so unglaublich deutliche Bilder zu erschaffen, die sich zu einer Abfolge augenscheinlich zufälliger Sequenzen fügen, mit schwindelerregenden Ellipsen, Orten, die sich in nichts auflösen, und Personen aus unserem Leben, die miteinander verschmelzen, sich überlagern und verwandeln, und die trotz dieser radikalen Inkohärenz in uns mit einer brennenden Intensität, Erinnerungen, Wünsche und Ängste aufleben lassen, um deutlicher noch als im Leben selbst Schrecken und Liebe zu erzeugen. Weil es in den Träumen nie eine dritte Person gibt, es dort immer nur um einen selbst geht, ähnlich wie in der apokryphen Kurzgeschichte von Borges, Die Insel der Anamorphosen , in der ein Schriftsteller die dritte Person in der Literatur erfindet, schließlich aber, nach langem, einzelgängerischem Siechtum, deprimiert und geschlagen auf diese Erfindung verzichtet und wieder in der ersten Person zu schreiben beginnt.
Nachdem die Fähre in Elba angelegt hatte, war ich unter den Ersten, die das Schiff verließen. Marie erwartete mich am Kai, sie sah zu mir herüber, als ich die Landungsbrücke hinunterstieg, sie hatte etwas Schönes, Aufmerksames in ihrem verschleierten Blick. Sofort, von der Sekunde an, in der wir uns wiedersahen, war die Liebe wieder da, vom ersten Blick an, auch wenn ich meine Arme und Hände, die sich wie magnetisch zu ihr hingezogen fühlten, unter Kontrolle hielt und mir nichts anmerken ließ, außer einem kurzen verräterischen Blick, der meinen Augen entwischte. Bei der Begrüßung beschränkte ich mich darauf, sie an der Schulter zu berühren, schweigend, ich wusste nicht, was ich sagen
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