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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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ins Meer. Sie sammelte Strandschnecken in den Klippenspalten und stapelte sie in kleinen Haufen in der Hand. Sie setzte nachdenklich ihren Weg fort, kauerte sich vor einem halb mit Schaum überfluteten, mit grünlichen Flechten und kompakten Verbünden gezackter Seepocken überzogenen Felsen nieder und versuchte, mit gekrümmten Fingern und ihrem Stein, winzig kleine, mit Fädchen besetzte Miesmuscheln abzulösen. Sie kam zu mir zurück und legte mir ihre Beute zu Füßen, sie öffnete ihre Hände, und wie ein kleiner Wasserfall glitten die nassen, gegeneinanderschlagenden Schalentiere langsam auf meine Füße (ich versuchte vergeblich, ihnen auszuweichen, klimperte schnell mit den Zehen im Leeren). Sie beugte sich kurz über meinen Körper, um sich ein T-Shirt und ihre Sandalen zu greifen, und begann dann, ein provisorisches Becken zu bauen, damit sich die Schalentiere nicht davonmachen konnten, ein Naturschutzgebiet, ein Teich voller heteroklyter Vongole , die Zutaten für unsere Spaghetti.
    Marie war zum Meer zurückgegangen. Sie stand aufrecht, die Füße im Wasser und die Hände auf den Hüften, und beobachtete träumerisch eine Seeanemone, die molluskenartig zwischen ihren Füßen dicht an der Oberfläche im Wasser schwebte, ihre gespreizten Tentakel schaukelten in der Brandung wie langes, schwimmendes, durchsichtiges Haar. Dann ging sie entschlossen weiter ins Meer hinein, mit ausgebreiteten Armen, sich größer machend, damit die Welle nicht an die Achsel reichte, und stieß kurze, stoßartige, immer lauter werdende Protestschreie aus, um mir mitzuteilen, welcher Unterschied zwischen der Temperatur ihres Körpers und der des Meeres herrschte, bevor sie sich voller Vergnügen rückwärts ins Wasser fallen ließ und sich die Haare nass machte. Sie planschte so noch einige Augenblicke herum und bat mich dann, ihr ihre Taucherbrille zu bringen. Ich brachte ihr die Brille, und sie begann, sie vor mir auszuspülen, hineinzuspucken und die Scheibe zu säubern. Sie setzte die Brille auf und hielt dann probeweise den Kopf ins Wasser, warf einen Blick ins Meer hinein. Wie viele Seeigel es hier gibt, rief sie mir mit einer sonnigen, ein wenig nasalen, durch die Brille gepressten Stimme zu und schwamm fort von mir, hinaus ins offene Meer, ließ sich plötzlich senkrecht nach vorn ins Wasser kippen, noch einen kurzen Moment paddelten ihre Beine anarchisch in der Luft, dann war sie ganz im Wasser verschwunden. Sie war weg, abgetaucht auf den Meeresgrund, nur ein paar geräuschlose, an die Wasseroberfläche sprudelnde Luftblasen verrieten noch ihre umtriebige submarine Präsenz an diesem Ort. Da sie über keine Hilfsmittel verfügte, kein kleines Messer, keine Gabel, dauerte es eine ganze Weile, bis sie wieder zum Vorschein kam, mit einem Ruck, mit schief hängender Taucherbrille und außer Atem tauchte sie auf und suchte nach mir, blies kraftvoll einen Schwall Wasser aus ihrem Schnorchel, ein senkrechter Strahl, wie von einem Wal, in den Händen hielt sie drei tropfende, schöne blasslila Seeigel, deren Stachel sich noch bewegten und die mit winzigen mineralischen oder pflanzlichen Partikeln bedeckt waren, Reste von Algen oder kleinen Steinchen, Splitter von farbigen Kieseln, Absplitterungen von Muschelgehäusen. Sie hatte wieder Boden unter den Füßen und kämpfte sich mit schwingenden Hüften durchs Wasser ans Ufer. Sie suchte sich zwischen den Felsen einen großen Stein und klopfte die Seeigel auf, öffnete mit groben Schlägen ihre Schalen, einen nach dem anderen, streckte den Arm ins Meer und schwang energisch die Stachelhäuter unter Wasser hin und her, um Überflüssiges auszuwaschen. Mit dem Fingernagel pulte sie dann ein orangerotes Stückchen aus dem Seeigel und führte es mit einer eleganten, spiralenförmigen Bewegung des Zeigefingers an ihren Mund, sie kostete daran, erst nur sie, aber als ich aus dem Wasser noch nass zu ihr herüberkam, bot sie mir an, zu probieren, steckte mir zärtlich zwei oder drei Häppchen ins Schnäbelchen (und ich genoss ebenso sehr ihren nassen Finger wie die frischen und köstlichen Seeigelstückchen, die wie Butter in meinem Mund zergingen).
    Wir waren schwimmen gegangen, silberne Sonnensplitter tanzten jedes Mal vor uns auf der Oberfläche des Wassers, wenn wir die Arme beiseiteschoben: Marie kraulte immer wieder von mir weg in die offene See hinaus, mit schönen, langsamen, regelmäßigen, abgezirkelten Schwimmbewegungen, einen Arm nach oben in den Himmel gestreckt, ein kurzes

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