Die Wahrheit
Jahren gar keinen Anwalt gehabt. Sicher, sein Bruder besucht ihn regelmäßig, aber dieses plötzliche Interesse an dem Mann verwirrt uns schon. Das können Sie sicher verstehen.«
Michael lächelte freundlich, doch seine nächsten Worte waren bestimmt. »Sie werden doch sicher das Recht eines Häftlings anerkennen, mit einem Anwalt zu sprechen.«
Der Offizier musterte ihn einen Moment, griff schließlich nach dem Telefon und sprach in den Hörer. Dann legte er wieder auf und schaute Michael wortlos an. Fünf Minuten verstrichen, dann klingelte das Telefon. Der Mann hob ab, lauschte kurz und nickte Michael dann zu. »Er will mit Ihnen sprechen«, erklärte er knapp.
KAPITEL 13
Als Rufus Harms auf der Schwelle des Besucherraums erschien und sein Blick auf den jungen Mann fiel, wirkte er verwirrt. Er schlurfte nach vorn. Michael erhob sich, um ihn zu begrüßen, doch ein barscher Ruf des Wächters hinter Rufus ließ ihn innehalten.
»Setzen Sie sich.«
Michael gehorchte umgehend.
Der Wächter ließ Rufus nicht aus den Augen, bis er Michael gegenüber Platz genommen hatte; dann erst musterte er den Anwalt. »Man hat Ihnen während der Leibesvisitation die Verhaltensregeln bei einem Besuch erläutert. Für den Fall, daß Sie einige vergessen haben, finden Sie die Regeln dort drüben deutlich lesbar angeschlagen.« Er zeigte auf ein großes Schild an der Wand. »Körperlicher Kontakt ist unter keinen Umständen erlaubt. Und Sie müssen die ganze Zeit sitzen bleiben. Haben Sie verstanden?«
»Ja. Müssen Sie in diesem Raum bleiben? Es gibt so etwas wie Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant. Und muß er angekettet bleiben?« sagte Michael.
»Das würden Sie nicht fragen, wenn Sie gesehen hätten, was er mit ein paar Leuten in diesem Raum gemacht hat. Sogar angekettet könnte er Ihnen in zwei Sekunden den dürren, kleinen Hals brechen.« Der Wächter trat näher an Michael heran. »Vielleicht gibt es in anderen Gefängnissen mehr Privatsphäre, hier aber nicht. Hier sitzen nur die schlimmsten und gefährlichsten Typen ein, und wir haben eigene Regeln, nach denen das Leben hier läuft. Das ist ein außerplanmäßiger Besuch, also haben Sie zwanzig Minuten Zeit, bevor der große böse Wolf hier wieder Toiletten schrubben muß. Und wir haben heute ein paar wirklich schmutzige Scheißhäuser.«
»Dann wäre es schön, wenn Sie uns anfangen ließen«, sagte Michael.
Der Wächter sagte nichts mehr und baute sich vor der Tür auf.
Als Michael Rufus anschaute, stellte er fest, daß der Blick des großen Mannes unverwandt auf ihm ruhte.
»Guten Morgen, Mr. Harms. Mein Name ist Michael Fiske.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Ich weiß, aber ich bin gekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen.«
»Sie haben gesagt, Sie seien mein Anwalt. Sie sind nicht mein Anwalt.«
»Das habe ich nicht behauptet. Die anderen sind nur davon ausgegangen. Ich habe nichts mit Mr. Rider zu schaffen.«
Rufus kniff die Augen zusammen. »Woher wissen Sie von Samuel?«
»Das spielt wirklich keine Rolle. Ich möchte Ihnen Fragen stellen, weil ich Ihre Verfügung zur Aktenanforderung erhalten habe.«
»Meine was?«
»Ihre Berufung.« Michael sprach leiser. »Ich arbeite beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.«
Rufus’ Mund klappte auf. »Verdammt noch mal, was haben Sie dann hier zu suchen?«
Michael räusperte sich nervös. »Ich weiß, das ist ziemlich unorthodox. Aber ich habe Ihren Berufungsantrag gelesen und wollte Ihnen ein paar Fragen darüber stellen. Sie erheben in Ihrem Antrag einige sehr gravierende Beschuldigungen gegen mehrere sehr bekannte Leute.« Als er in Rufus’ verwunderte Augen sah, bedauerte Michael plötzlich, hierhergekommen zu sein. »Ich habe mir die Einzelheiten Ihres Falles angesehen, und einige Punkte kommen mir nicht ganz logisch vor. Deshalb wollte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, und wenn alles geklärt ist, können wir Ihren Antrag bearbeiten.«
»Warum wird er nicht schon längst bearbeitet? Er liegt dem verdammten Gericht doch vor, oder?«
»Ja, aber er weist einige formale Mängel auf, die normalerweise dazu führen würden, daß er nicht angenommen wird. Ich könnte versuchen, Ihnen bei diesen Formfragen zu helfen. Aber ich möchte einen Skandal vermeiden. Sie müssen wissen, Mr. Harms, daß das Gericht jeden Tag buchstäblich Kisten voller Anträge von Häftlingen erhält. Anträge, die meist unbegründet sind.«
Rufus kniff die Augen zusammen. »Wollen Sie damit sagen, daß
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