Die Wanderbibel
wirklich nicht hoch genug anrechnen, wie sehr er sich mühte, mit keinem Brummton zu verraten, wie entsetzlich langweilig er diese Anfängertour empfand.
Ein einziger Wermutstropfen fiel an diesem perfekten Tag in unseren alpinen Freudenbecher. Es war nicht gerade einsam auf der 1978 eingerichteten Alpspitz-Ferrata. Es hatten sich nämlich noch zahllose andere Bergwanderer entschlossen, an solch einem traumhaften Tag Deutschlands beliebtestem Klettersteig – so behauptet es jedenfalls die einschlägige Fachliteratur – einen Besuch abzustatten. Das Ganze hatte zeitweilig etwas von einer Massenwanderung von Lemmingen. Nur dass wir alle nicht einer tödlichen Schlucht, sondern dem Gipfel zustrebten. Immer wieder bildeten sich Staus wie in der Warteschlange vor der Kasse eines Supermarktes.
Mehr Nervenkitzel gab es erst rund 150 Meter unter dem Gipfel. Die Passage war recht ausgesetzt. Doch nach anderthalb Stunden Klettersteigerfahrung fühlten wir uns wie Vollprofis. Ehe wir uns versahen, waren wir auf dem Gipfel. Nach Norden blickten wir über Garmisch-Partenkirchen hinweg bis hin zum Starnberger See, im Westen ragte unser Ziel von morgen, die Zugspitze, empor, im Osten leuchtete graublau wie die Augen von Angela Merkel der Walchensee, und im Süden konnten wir unser Nachbarland Österreich bestaunen. Wie zu erwarten war: Allein waren wir auch auf dem Gipfel nicht: Rund zwanzig andere Klettersteiggeher hatten zeitgleich mit uns den Steig absolviert und genossen Marschverpflegung und Aussicht. Wir hatten den Mund noch voll, da drängte Sepp bereits zum Aufbruch. Schließlich galt es doch, im Abstieg wieder einen Klettersteig zu bewältigen. Und zwar diesmal die sogenannte »Nordwand-Ferrata«. »Nordwand-Ferrata«, das klingt beeindruckend, wenn nicht sogar gefährlich, aber dieser Klettersteig war noch einfacher als unsere Aufstiegsroute. Kurze ungesicherte Schuttpassagen, eine steile, aber gut gesicherte Rinne, zwei Tunnel, ein überdachtes Felsband und eine kleine Leiter, das waren schon die spärlichen Höhepunkte diese Steiges.
Aber eben an dieser finalen Leiter des Nordwandsteiges kam es dank eines Ehedramas zu einem längeren Stau. Der weibliche Teil eines Ehepaares, das den Nordsteig uns entgegenkommend als Aufstiegssteig benutzen wollte, stand, oder besser gesagt hing, heulend auf der rund fünf Meter langen Leiter und weigerte sich hartnäckig, auch nur einen Schritt nach oben oder nach unten zu machen. Der völlig entnervte Herr Gemahl, der wie seine Gattin auf ein sicherndes Klettergeschirr verzichtet hatte, trug an den Füßen lediglich Turnschuhe. Eine Tatsache, die Sepp zunächst ein entsetztes Brummen und dann einen hier nicht wiederzugebenden Fluch entlockte. Der Ehemann versuchte, auf einer parallel zur Leiter verlaufenden Klammerreihe stehend, zunächst seine Liebste mit gutem Zureden zum Weitergehen zu animieren. Er hauchte: »Nur noch drei Schrittchen und alles ist gut.« Als dies überhaupt nichts half, ging der Herr zügig zu finsteren Drohungen und noch wüsteren Beschimpfungen über (wir zitieren auch diese nicht). Ein Vorgehen, das die kaum noch zugängliche Gattin mit noch lauterem Schluchzen beziehungsweise mit Tönen, die an das Geheul eines kompletten Wolfsrudels erinnerten, quittierte. Kurzum: Hier hing eine Ehe im wahrsten Sinne des Wortes in den Seilen. Nachdem wir das Drama, nicht ohne eine Portion klammheimlicher Freude, eine Zeitlang beobachtet hatten, boten wir schließlich zaghaft unsere Hilfe an. Der schwer transpirierende Gatte verbat sich jedoch energisch und rüde jegliche Einmischung in sein Eheleben. Um nicht noch bei Anbruch der Dunkelheit am Kopfende der Leiter zu stehen, gab Sepp kurz darauf den Befehl, die Leiter beziehungsweise Klammerreihe samt mittlerweile hyperventilierendem Gatten einfach zu umgehen, »aber bloß Obacht geben«. Und so kamen wir sogar noch zu unserer ersten »sicherungsfreien« Klettereinlage.
Auf den Vorfall später abends in der Hütte angesprochen, teilte uns Sepp übrigens in einer für seine Verhältnisse bemerkenswert langen Rede mit, dass solche schlimmen »Turnschuh-Touristen« aus seiner Sicht, sozial gesehen, noch unter Zuhältern oder gar Politikern anzusiedeln seien. Meinem Bergführer möchte ich nicht widersprechen. Aber einen gewissen Unterhaltungswert hatte das gepeinigte Ehepaar durchaus.
Nachdem wir unsere Habseligkeiten aus der Felsspalte geborgen hatten – es war tatsächlich nichts geklaut worden –, legten wir auf der
Weitere Kostenlose Bücher