Die Wanderbibel
letzten hundert Jahren ist die Temperatur in den Alpen um bis zu zwei Grad gestiegen. Sollte es bei dieser Entwicklung bleiben, glauben Experten, dass die deutschen Gletscher innerhalb von vierzig Jahren verschwunden sein werden.
Aber zurück zu unserer Tour: Als wir den Höllentalferner (in Österreich heißen die Gletscher »Ferner«, und die Zugspitze liegt ja teilweise auf österreichischem Boden) erreicht hatten, mussten wir erst mal Steigeisen anlegen. Ein absolutes Muss, denn ohne Steigeisen oder zumindest sogenannte »Grödeln« – eine Art »Steigeisen light« – kommt man zwar im weichen Schnee weiter. Auf blan kem Eis rutscht man jedoch permanent weg. Das Anlegen der Steigeisen dauerte ewig. Wir hatten nämlich am Abend zuvor völlig vergessen, die Steigeisen mittels geeignetem Werkzeug an unsere Schuhe anzupassen. Das musste jetzt mühsam (es war nur ein einziges Werkzeug vorhanden) einer nach dem anderen unter Sepps Anleitung vor Ort erledigen. Da die Steigeisen tatsächlich prähistorischer Herkunft waren und wir uns obendrein noch beim Anpassen und Anlegen der eisernen Steighilfen ziemlich blöd anstellten, verloren wir eine volle Stunde, bevor wir uns auf den Gletscher wagen konnten. Ein Zeitverlust, den Sepp mit einer Wiederholung seines Superfluchs vom Vortag kommentierte. Dann seilte uns Sepp alle an und ermahnte uns, das Seil stets straff zu spannen. Nun begann unsere Gletscherpremiere. Die ersten Meter mit Steigeisen an den Füßen waren gewöhnungsbedürftig, aber bald kamen wir alle immer besser mit den Zacken unter unseren Schuhen zurecht. Unsere Seilschaft überquerte den Gletscher, der einige beeindruckende Spalten aufwies, in zügigem Tempo.
Am Ende des Gletschers wartete erneut eine kleine Mutprobe auf uns. Um zum Einstieg in den zweiten Teil des Höllentalklettersteigs zu gelangen, musste noch die rund zwei Meter breite »Randkluft« mit einem kühnen Sprung überwunden werden, ein im Verlauf des Sommers immer tiefer werdender Spalt am oberen Rand des Gletschers. Der Klettersteig wurde jetzt kurzzeitig deutlich schwieriger und knackiger: Gleich zu Beginn sorgten eine reichlich lockere Drahtseilbefestigung und erneut eine senkrechte, trittlose Felswand, die auf Eisenstiften überwunden werden musste, für reichlich Spannung.
Mächtig zu schaffen machte uns jetzt auch das Wetter. Der Regen wurde immer stärker und ging allmählich dank rapide fallender Temperaturen in einen äußerst unangenehmen Schneeregen über: Der Fels wurde rutschig, und die Eisentritte wurden glitschig. »Scheiße«, schrie der Großbäcker, »so macht das keinen Spaß.« Jetzt drückte Sepp noch mehr auf die Tube und trieb uns erbarmungslos an, wollte er doch seine Schäfchen bei den deutlich gefährlicher gewordenen Bedingungen im wahrs ten Sinne des Wortes ins Trockene bringen.
Aber nicht nur wegen Eis und Schnee machte sich Sepp Sorgen: Dank der aus Eisen hergestellten Versicherungen sind Klettersteige bei Gewittern extrem gefährlich. Die Drahtseile wirken wie Blitzableiter, was die im Gebirge ohnehin schon hohe Blitzschlaggefahr zusätzlich erhöht. Während einer der wenigen Kletterpausen erzählte uns Sepp dann noch eine unappetitliche Gruselgeschichte von einem Klettersteiggeher, der in den Karawanken, einem Gebirgsstock der Südlichen Kalkalpen zwischen Österreich und Slowenien, vom Blitz regelrecht gegrillt wurde.
Aus dem Schneeregen kamen uns auf einmal drei Män ner der Bergwacht Garmisch-Partenkirchen entgegen, die uns fragten, ob wir denn unterwegs die Leiche des vor kurzer Zeit tödlich abgestürzten Bergsteigers gesehen hätten. Es gibt Fragen, die ganz und gar nicht geeignet sind, eine ohnehin schon ziemlich wacklige Motivation aufrechtzuhalten.
Und als ob das nicht alles schon genug gewesen wäre, teilte Sepp uns mit, dass es »nur« noch ein winziges Stünd chen bis zum Gipfelkreuz sei. Da wurde ich mit einem Schlag entsetzlich müde, meine Beine wurden bleischwer und verweigerten den Dienst. Mir wurde schwindlig. Mir fehlte vollkommen der Wille, auch nur noch einen einzigen Schritt zu gehen. Ich hatte das Gefühl, mit Tempo achtzig gegen eine Mauer gefahren zu sein. Das ist partout keine gute Voraussetzung für die Bewältigung eines Klettersteiges bei extrem schlechtem Wetter. Die Erklärung für meinen plötzlichen Leistungseinbruch war simpel und ziemlich ernüchternd. Ich hatte schlicht und einfach über Stunden hinweg vergessen, Nahrung zu mir zu nehmen und war deshalb einer Gestalt
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