Die Wanderbibel
darauf nicht mehr aus dem dicken Schädel bekommen hat. Erträglicher und weniger begehrt bei Gelegenheitsalkoholikern ist der Ostermontag, es sei denn, der Winter war gnädig und der Schnee in den Mittelgebirgen ist verschwunden.
Auf keinen Fall gehen wir in den Schwarzwald, dachten wir uns vor einigen Jahren an einem sonnigen, milden Ostermontag. Erinnerten wir uns doch noch allzu gut an die Großfamilie mit einem gefühlten Dutzend Kinder, die ein Jahr zuvor an diesem Feiertag vor der Langmartskopfhütte ein Lagerfeuer machte, dessen Rauch säule eigentlich die Feuerwehr in Baden-Baden hätte alarmieren müssen. Wir vesperten geräucherten Lachs, Rauchbrot, Holzofenmöhren, Rußeier, Röstäpfel und tran ken Kaminfeuerapfelschorle, nachdem eine freundliche Beschwerde bei den von Glückshormonen geputschten Müttern nichts half: Fördern Lagerfeuer und Abenteuer doch die Kreativität der ohnehin hochbegabten und bildhübschen Kinder, was kinderlosen Freizeitaktivisten unbedingt gesagt werden muss. Wir Oberschmarotzer der Nation erdreisteten uns, diese künftigen Rentenbeitragszahler, diese künftigen Bestverdiener, vielleicht sogar Arbeitgeber, Fabrikbesitzer, Universitätsprofessoren oder Familienministerinnen in die Schranken weisen zu wollen? Schleunigst sollten wir nach Hause, um mindestens Fünflinge zu zeugen, statt unschuldige Kinder zu schikanieren! Ja, wir fühlten uns nach diesen mütterlich-erbosten Blicken nicht gut! Wir Landstreicher auf der Schwarzwaldhöhe vergeudeten unsere wertvolle Jugend.
Nun denn: Der Winter war früh verschwunden, die Forsythien und die Osterglocken blühten, wie sich das für Ostern gehört. »Ganz einfach«, sagte meine Frau: »Wir wandern zum Karlsruher Rheinhafen.« Immer an der Alb lang, ein insgesamt nicht einmal vierzig Kilometer langes Flüsschen, das in der Nähe von Bad Herrenalb entspringt. Zartes Grün spross, ab und an begegnete uns eine Familie mit Hund oder ein paar bunte Radler, die hier wenig störten, und dazu beobachteten wir die Enten: »Gell, ihr macht bald süße kleine Entchen«, rief Anja einem Stockentenpaar zu, das sich ob dieser menschlich wie biologisch unkorrekten Aufforderung sofort indigniert in die Flussmitte verzog. Die kleinen Enten sind zu Ostern nämlich schon gezeugt.
Mitten in einer Wiese lauerte eine Katze Mäusen auf, oben rauschte die B10, ein Geräusch, das zunehmend an den Schmadribachfall im Berner Oberland erinnerte, je mehr die körpereigenen Drogen zu wirken begannen. Nach einer Stunde verließen wir den Weg, der am Großstadtflüsschen entlangführte, von Ferne grüßte noch ein Schlauchboot, in dem zwei verwegene Vierzehnjährige bald an der Raffinerie vorbeigleiten würden. Oben rauschte immer noch die B10, aber nach einer Stunde waren wir sozusagen durch und marschierten an der Honsellbrücke und dem Heizkraftwerk-West vorbei, einem gewaltigen Quader, flankiert von Schornsteinen, dann ging es entlang der Hafenbecken. Weit und breit war kein Auto mehr zu sehen, geschweige denn zu hören, erst recht keine Motorradterroristen, von denen zur gleichen Zeit, folgt man der gängigen Unfallstatistik, gerade das erste halbe Dutzend auf der Schwarzwaldhochstraße einen Arm, ein Bein oder das Leben verlor und so ihren Müttern und den Einsatzkräften den Feiertag verdarb. An der Schiffsanlegestelle des Beckens II vermissten wir das Fahrgastschiff »MS Karlsruhe«. Das war wohl mit jenen alten Tanten auf Kaffeefahrt, die heute nicht in der Straßenbahn nach Bad Herrenalb oder im Bus zum Mummelsee saßen, wo sie uns auf dem Rückweg den Platz wegnahmen und ihre Nase an die Scheibe drück ten, sobald ein Motorrad am Wegesrand lag und ein Blau licht vom worst case für die Haftpflicht-, Rechtsschutz- und Krankenversicherung kündete. Uns aber entzückten an diesem strahlenden Morgen über hundert Jahre alte Architekturdenkmäler, riesige Sandsteinlagerhallen, etwa das Kalag-Getreidelagerhaus oder ein Hochwassersperrtor. Wir waren bezaubert, als seien es Murmeltiere, Bartgeier oder seltene Pflänzchen wie der Himmelsherold. Es waren allesamt Gebäude, von denen wir bisher nicht wussten, dass es sie gab und wofür man sie brauchte.
Wer – im Gegensatz zu uns – gezielt nach Stadtwander wegen sucht, weil er nicht nur Naturgenuss, sondern auch Gastronomie und Architekturdenkmäler oder Museen besuchen will, wird inzwischen vielfältig bedient, und zwar vor allem in Österreich. In Linz gibt es eine ganze Reihe hochoffizieller
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