Die Wanderbibel
Normalerweise wäre ich ungeduldig geworden, hätten wir so lange in der Schlange einer Seilbahnstation gestanden – sofern wir überhaupt Seilbahn fahren, schließlich will ich spätestens um elf auf dem Gipfel sein, und welche Seilbahn fährt schon um sechs Uhr morgens? Gut, im Herbst darf man auch mal später aufstehen, die sommerlichen Quellwolken, welche die Fernsicht beeinträchtigen, bleiben dann aus. Und im Winter herrschen sowieso den ganzen Tag über glasklare, pardon: kristallklare Sichtverhältnisse. Zehn Minuten vor zehn saßen wir also auf der Bank in der Seilbahn mit ihren Velourssitzen, gegenüber zwei Briten, die uns nach zwei Minuten Fahrt fragten, ob wir denn keine Skier hätten. »No!«, antwortete Anja kurz und knackig. Ob wir da oben wandern wollten, da läge jede Menge Schnee, das sei doch ein Skigebiet, ob wir das nicht wüssten, kamen weitere Fragen in schönstem Oxford-Englisch. Nein, wir wollten uns nur die Füße vertreten, antwortete Anja. Ob wir denn nicht den Skifahrern in die Quere kämen, wollte der neugierige Brite wissen, wir mögen doch einmal einen Blick in den Kalender werfen, es sei Anfang April. »Wir sprechen kein Englisch«, schnauzte ich ihn an.
Mit etwas mehr alpiner Erfahrung und Kenntnissen vom jeweiligen Gebiet, kann man im Winter auch abseits markierter Winterwanderwege unterwegs sein – mit oder ohne Schneeschuhe. Ein Abstecher vom Niederhorn im Berner Oberland auf den Burgfeldstand gehört zu unseren vorsommerlichen Favoriten. Man sollte sich allerdings immer bewusst sein, dass Lawinen drohen können, selbst gängige Winterwanderwege werden gelegentlich wegen Lawinengefahr gesperrt. Wer im Worldwideweb nach Beschreibungen von Winterwanderungen sucht, sollte bei Berichten von Privatleuten grundsätzlich skeptisch sein. Manche Tour führte durch lawinengefährdetes Gebiet, sodass die Berichterstatter meist ohne es zu wissen in Lebensgefahr gewesen sein könnten, zumal wenn sie allein beziehungsweise ohne entsprechende Ausrüstung unterwegs waren, sprich Lawinensuchgerät, Schneeschau fel und Lawinensonde.
Das alles gilt natürlich nicht bei schneearmen Wintern oder Wintern mit Startschwierigkeiten. So ist etwa der Fudschijama Niederösterreichs, der Große Ötscher (1893 Meter), ein exzellenter Winterwanderberg, »vor allem dann, wenn auf den Pisten wegen Schneemangels noch Ruhe herrscht« (bergnews.com). Der vorgelagerte Gipfel, auch »Vaterberg« genannt, wird insbesondere wegen seiner phänomenalen Rundsicht bis in die Hohen Tauern gerühmt. Mit etwas Wetterglück kann man bis tief in den November aber noch deutlich oberhalb von 2000 Metern wandern.
Auf dem Diedamskopf angekommen, stellten wir als Erstes fest: Die Sicht war bescheiden. Immer wieder zogen Nebelschwaden über den Gipfel, auch wenn dazwischen die Sonne blinkte, doch aus Richtung Westen näherte sich ein Schlechtwettergebiet. Wir hatten also keine Sicht bis Tödi und Finsteraarhorn, wenigstens die Allgäuer Alpen glitzerten ab und an in der Sonne, allerdings alles andere als kristallklar. »Juhu, wir sind über 2000 Meter Höhe, das gibt ein Eins-A-Bergjahr«, rief ich, worauf mich Anja daran erinnerte, dass wir ja erst noch auf den Gipfel mussten. Ein breiter, gut gewalzter Weg führte uns siebzig Höhenmeter bis zum Gipfelkreuz. Der überdimensionale Hochseedampfer der Kanisfluh, ein besonders eigenwillig geformter Berg, lag perfekt weiß gescheitelt unter uns. »Das kann es ja noch nicht gewesen sein«, sagte Anja nach dem Gipfelküsschen. Sie liebt den Bregenzerwald heiß und innig, weil er eine Mischung aus Mittelgebirge und Alpen ist. Ohne dass man allzu große Torturen auf sich nehmen muss, gelangt man auf wun derbare Gipfel, der öffentliche Nahverkehr ist vorbildlich, sodass wir im Sommer gerne ohne Auto anreisen – ab drei Nächten Aufenthalt erhält jeder Gast eine Netzkarte, mit der man sämtliche Bergbahnen und Busse unentgeltlich nutzen kann. Das kommt freilich der einheimischen Gastronomie zugute.
Ich schlug vor, dass wir angesichts der Tatsache, dass es allmählich und ganz langsam auf die Mittagszeit zuging, ins Bergrestaurant einkehren, deftig essen und ein – wenn es sein muss österreichisches – Bier mit nachfolgendem Enzianschnaps zu uns nehmen sollten, mitsamt abschließender Siesta in der Ferienwohnung. »Du hast sie nicht alle«, sagte Anja, »wir kämpfen uns durch bis zur Mittelstation.« Wie sollten wir zwischen diesen Hunderten, ja Tausenden von Skifahrern jemals
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