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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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beziehungsweise Vereisungsgrad sind diese nicht ganz einfach zu begehen. Gelegentlich kollidieren Winterwanderwege mit Skipisten, wie wir es etwa beim Aufstieg nach Sillerenbühl bei Adelboden kennengelernt haben. Die Schweizer rechnen mit einvernehmlich-freundschaftlichem Umgang der verschiedenen Touristenkategorien und montierten mehrsprachige Schilder, dass es sich hier um einen Weg handle, der von Wanderern, Schlittlern und Skifahrern gemeinsam genutzt wird. Dass der Schnellere auf den Langsameren Rücksicht nimmt, davon gehen die Eidgenossen aus. Sie glauben noch an das Gute im Menschen.
    Eine zweite, deutlich seltenere Kategorie machen ausgetretene Schneepfade aus, die besonders nach Neuschnee erhebliche Schwierigkeiten bereiten können, sofern man nicht mit Schneeschuhen unterwegs ist. Bei den meisten Winterwanderwegen legen die örtlichen Tourismusverbände Wert auf Einkehrmöglichkeiten – im Winter ist es bekanntlich kalt, Brotzeiten im Schnee können ungemütlich sein. Aber auch Ruhebänke an sonnigen Plätzen und insbesondere Rundwege mit guter Verkehrsanbindung sind angesichts der kurzen Tage im Winter wesentliche Elemente eines vorbildlichen Winterwanderwegenetzes. Der Winterwanderer muss sich oft mit Talwanderungen zufriedengeben, der Journalist, der über das Winterwandern im Unterengadin philoso phierte, hat durchaus Recht: Winterwandern hat mehr mit Spazierengehen und Langsamkeit zu tun als mit »Power Walking« oder »Gipfelsammeln«.
    Bis kurz vor Grindelwald flutschten wir also ins Tal mit einer für uns ungewohnten Geschwindigkeit. Um ehrlich zu sein: ein perfektes Vergnügen. Allerdings mit einem kleinen Schönheitsfehler. Kurz oberhalb unseres Zieles, unweit des Talortes, lag nicht mehr allzu viel Schnee. Wir mussten den Schlitten streckenweise tragen, bevor wir wieder kurze, sonnengeschützte Waldstrecken fanden. Eine kleine Sünde müssen wir gestehen: Das letzte Stück war für Rodler bereits gesperrt. Anja holperte mit dem Schlitten in die Kurve, blieb an einer Baumwurzel hängen und stürzte, ich zog sie lachend unter dem Schlitten hervor. Anja lachte nicht mehr. Die Sonnenbrille war hinüber, der linke Mittelfinger schwoll kräftig an und ließ sich kaum noch bewegen. Gebrochen war nichts, die Schwellung hielt dafür ein geschlagenes halbes Jahr, und von der Hausärztin gab es einen Rüffel, weil wir ohne Helm unterwegs gewesen waren.
    Diesmal wollten wir in den Bregenzerwald, den wir von drei Sommerurlauben kannten, und zwar nach Au, obwohl bereits Winterwanderführer für Vorarlberg auf dem Markt sind. Es ist eine Gegend, die bislang nur in einigen Ecken verschandelt ist (etwa im Skigebiet Mellau-Damüls) und von der wir uns einige hübsche Talwanderungen und vielleicht eine kleine Bergtour versprachen. »Irgendwie wird man schon auf einen Berg raufkommen«, sagte ich zu Anja, als wir in unserer Ferienwohnung die Karten studierten. Doch bei diesen Schneemengen wollte mir keine Route einfallen, kein flacher Buckel, auf den man ohne Schneeschuhe staksen konnte. Schneeschuhe hatten wir nämlich aus dem einfachen Grund nicht, weil wir im heimischen Schwarzwald keinen anständigen Winter mehr erwarteten und wir für Mitte April schon auf den einen oder anderen abgetauten Talwanderweg oder kahlen Südwesthang hofften. Außerdem ist Schneeschuhwandern (wohlgemerkt erst seit Mitte der neunziger Jahre!) eine Trendsportart, der wir nicht unbedingt frönen mussten. Wir sind echte Wanderer, uns reichen Wanderstiefel, die über Nacht auf der Heizung austrocknen, wir können es auch ohne!
    Im legendären Wanderjahr 2003, als viele Wander-Dreitausender aus sterbenden Gletschern geboren wurden, so erinnerte mich Anja, waren wir im Berner Oberland am Karfreitag auf einen leibhaftigen Zweitausender gewandert. Um genauer zu sein, rutschten wir von Schneefeld zu Matschpfütze und zogen uns an einer steileren Stelle an einer Tanne hoch, um schließlich auf den breiten Buckel des Gibel zu gelangen. »Das war unser frühester Zweitausender!«, sagte ich zu Anja an jenem Karfreitagabend, »ein gutes Omen für ein extraordinäres Wanderjahr 2003.« Ungelogen, übrigens: Wir kamen in diesem folgenden legendären Jahrtausendsommer während einer Wanderung in ein kleines, ein winziges Schneetreiben, und zwar auf dem Großen Moosstock in Südtirol!
    Wer im Winter dennoch auf Gipfel steigen will – und das als Wanderer –, wird in manchen Gegenden fündig, in der Nähe von Kandersteg ist es immerhin das

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