Die Wanderbibel
anzutreffen sind. Wir sprachen bereits darüber.
Im Winter suchen die Alpendohlen ihre Nahrung in tieferen Lagen und verlagern ihr Leben in die Dörfer und Städte am Alpenrand. Dort erscheinen die offenbar stets hungrigen Vögel oft gezielt und ausschließlich zur Öffnungszeit von Restaurants oder touristischen Einrichtungen, ganz so, als könnten sie die Uhr oder die Tafel mit den Öffnungszeiten lesen.
Im Gegensatz zu den meisten Tieren, aber in Einklang mit den deutschen Wanderern, die, wie wir ja bereits gelesen haben, in der Mehrzahl konservativ und häuslich-familienorientiert sind, bleiben sich Alpendohlen übrigens ein Leben lang treu. Zu »Scheidungen« kommt es nur in Ausnahmefällen, etwa wenn sich ein (Ehe-)Weibchen von einem Junggesellen zu einem Seitensprung überreden lässt. Eine Attitüde, wegen der man mit den Vögeln jedoch keinesfalls zu hart ins Gericht gehen sollte. Ein kleines Techtelmechtel nebenher wird ja heutzutage auch bei Spitzenvertretern eher konservativer politischer Parteien durchaus als szeneüblich betrachtet.
Wer es in Sachen Vögel gerne ein paar Nummern größer hat, dem kann ich nur das Rauriser Krumltal im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern ans Herz legen. Was so ähnlich klingt wie ein Buch von Karl May, gibt es hier tatsächlich: Das Tal der Geier. Hier kann man mit etwas Glück einen leibhaftigen Bartgeier, der mit einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern zu den größten flugfähigen Vögeln der Welt gehört, beobachten. Die riesigen Geier waren im Nationalpark 1986 mit Erfolg wieder angesiedelt worden.
Eigentlich waren die Bartgeier zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Alpen ausgerottet. Die gewaltigen Vögel waren ihrem schlechten Ruf zum Opfer gefallen. Unsere Altvorderen hielten die großen Geier nämlich für blutrünstige Bestien, die Schafe und sogar kleine Kinder raubten. Im Volksmund hießen sie deshalb auch Lämmergeier. Schauergeschichten – »letztes Jahr hat so ein Sauvogel die Huber Zenzi geholt und vor den Augen der Eltern wie ein Murmeltier weggetragen« – über die Untaten der Geier zirkulierten fast im gesamten Alpenraum. Und auch die zeitgenössische Wissenschaft glaubte an die Story vom geflügelten Kidnapper.
So warnte etwa der Schweizer Geistliche und Schriftsteller Friedrich von Tschudi noch 1890 in seinem »Thierleben der Alpenwelt« vor dem Lämmergeier und zitierte »verbürgte Beispiele« von Kindsentführungen und Kindstötungen: »Im Urnerlande lebte noch 1854 eine Frau, die als Kind von einem Lämmergeier entführt worden war. In Hundwyl (Appenzell) trug ein solcher verwegener Räuber ein Kind vor den Augen seiner Eltern und Nachbarn weg. Auf der Silberalp (Schwyz) stieß ein Geier auf einen auf einem Felsen sitzenden Hütebuben, begann ihn sogleich zu zerfleischen und stieß ihn, ehe die herbeieilenden Sennen ihn vertreiben konnten, in den Abgrund …«
Heute weiß man natürlich, dass die Geschichte vom kinderraubenden Greif ein Ammenmärchen ist. Mehr noch: Der Vogel musste ab und an als Sündenbock herhalten, wenn es galt, eine Kindestötung zu verschleiern.
In Tibet hat der Bartgeier dagegen einen wesentlich besseren Ruf, ja, dort ist er sogar ein heiliger Vogel. Noch heute werden an einzelnen Orten Verstorbene zerhackt und den Geiern regelrecht zum Fraß vorgeworfen. »Himmelsbestattung« wird das dort genannt.
Die Wiederansiedlung der Geier in den Alpen wurde übrigens von einigen kuriosen Maßnahmen flankiert. So hielt man in einigen Zuchtstationen im Gehege der Bartgeier lebende Kaninchen, Murmeltiere und Hühner, um der Bevölkerung zu demonstrieren, dass die Riesenvögel sich nicht an lebenden Tieren und erst recht nicht an Kindern vergreifen. Eine meines Erachtens nicht ganz geglückte Beweisführung, denn eigentlich hätte man ja Kleinkinder in die Geiergehege sperren müssen!
Und wie sieht es mit der Tierwelt in den Mittelgebirgen aus? Rehen, Hasen und selbst Füchsen begegnet man reichlich. Dachse sind nachtaktiv, Auerhähne fast ausgestorben. Wildschweinen möchte man nicht begegnen. Wenn aber doch, sollte man – so zumindest die vorherrschende Lehrmeinung – cool und ohne Hektik den geordneten Rückzug antreten. Oder noch besser: auf den nächsten Baum klettern. Allerdings mal Hand aufs Herz, wem ist jemals ein Wandersmann unter die Augen gekommen, der verzagt auf einem Ast eines schwankenden Bäumchens hockt, an dessen Fuß ein wütender Keiler seine Runden dreht? Mir jedenfalls nicht.
Und was
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