Die Wanderbibel
ist mit dem König der Wälder, dem Hirsch? Ich meine jetzt nicht die bemitleidenswerten importierten Damhirsche, die meist in mehr oder minder großen Gehegen ihr Dasein als Schlachtvieh fristen, sondern den stolzen Rothirsch, das größte Landtier Deutschlands. Den Rothirsch, der in freier Wildbahn oder zumindest auf Postkarten wirklich majestätisch daherkommt. Den Rothirsch, der in der Brunftzeit sein mächtiges Röhren ertönen lässt, das Experten zufolge kilometerweit zu hören sein soll. Denn auch beim Röhren geht es um Frauen und Macht – wie fast immer im Tierreich. Zum einen sollen nämlich durch die dröhnenden Brunftgeräusche Weibchen angelockt werden, zum andern soll Konkurrenten mit geballter Sangeskraft klargemacht wer den, wer hier der Platzhirsch ist und somit in Sachen Sex das Sagen hat.
Einmal einem röhrenden Hirsch zu begegnen, das war einer der dringlichsten Wünsche meiner Kindheit. In den sechziger Jahren waren Gemälde mit röhrenden Hirschen bekanntermaßen der Hit. Meine Großeltern hatten, passend zum Gelsenkirchener Barock, einen be sonders prächtigen im Wohnzimmer hängen. Bei Karstadt war er mit und ohne Alpenglühen anzutreffen, und angeblich hing sogar einer beim damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke in Schloss Bellevue.
Als Proletenkunst verschrien, steht der »Röhrende Hirsch« heute für Spießigkeit, Heimattümelei und Kitsch. Für mich war er damals das Nonplusultra. So ein Röhrender Hirsch wurde nur von der kompletten Fußballnationalmannschaft übertroffen, und das auch nur ganz knapp.
Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass Psychologen im röhrenden Hirsch ein Symbol der Verherrlichung und Vorherrschaft des Mannes sowie des kapitalistischen Konkurrenzkampfes sahen oder gar den gestreckten Hirschhals als Phallussymbol und den heißen Atemhauch als Ejakulat interpretierten.
Viele Jahre später erfüllte ich mir dann endlich den Traum vom röhrenden Hirsch. Ich nahm im Nationalpark Berchtesgaden an einer von einem Förster geleiteten Wanderung zu einem sogenannten Brunftplatz teil. Dort, so wurde mir versprochen, sollte ich dann mit etwas Glück einem in der Brunft befindlichen, röhrenden Hirsch endlich begegnen.
Und tatsächlich, nach einer dreistündigen abendlichen Wanderung – der Brunftplatz lag ziemlich abgelegen – sah ich ihn dann auf einer Lichtung stehen. Meinen ersten röhrenden Hirsch. Und er röhrte, was das Zeug hielt. Akustisch war es irgendwo zwischen dem Muhen einer Kuh und dem Geknurr eines Löwen anzusiedeln, aber in der Lautstärke einer Vuvuzela. Die drei ebenfalls anwesenden Hirschkühe wirkten allerdings reich lich desinteressiert und verspeisten lieber ein paar Gräser. Der Hirsch selbst wirkte ziemlich angeschlagen, mager, lethargisch – auf jeden Fall vollkommen unfit.
»Der ist abgebrunftet«, stellte unser Führer lakonisch fest und lieferte gleich eine stringente Erklärung für diese ominöse Behauptung hinterher. Beobachtungen von Wissenschaftlern haben nämlich gezeigt, dass ein Hirsch in den Brunftwochen nahezu fünfzehn Stunden pro Tag am Stück röhrt. Dieses pausenlose Röhren zehrt gewaltig an den Kräften. Der Platzhirsch ist deshalb am frühen Morgen so erschöpft, dass er kaum noch in der Lage ist, Nahrung zu sich zu nehmen. Und dann muss er auch noch ständig seinen Harem zusammen und die lästige Konkurrenz auf Distanz halten. Kein Wunder also, dass ein Hirsch sich in der Brunft völlig verausgabt, bis zu 20 Prozent seines Gewichts verlieren kann und völlig auf dem Zahnfleisch daherschleicht. Im Jägerjargon ist so ein Hirsch »abgebrunftet«.
Mir kam das bekannt vor. Auf dem Rückweg fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen: In meinem näheren Bekanntenkreis gab es ebenfalls zwei »Abgebrunftete«. Mindestens!
Natürlich sollte man als naturbegeisterter Wanderer auch einen Blick für die kleinen Dinge des Lebens haben. Aber mal ehrlich: Wer hat schon bei einer anstrengenden Mittelgebirgswanderung die Zeit und die Muße, einen Goldlaufkäfer beim Verzehr einer Wegschnecke zu beobachten oder einem kopulierenden Heuschreckenpaar bis zum Ende des Aktes seine Aufmerksamkeit zu schenken? Zu unterscheiden, ob da ein Zilpzalp oder ein Grünling nach seinem Weibchen schreit, oder jedes Mal mühselig die einschlägige Bestimmungsliteratur aus dem Rucksack zu kramen, nur um festzustellen, dass es wieder keine Orchidee, sondern nur ein Efeu-Gundermann gewesen ist, der da am Wegesrand sein Dasein fristet?
Mein
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