Die Wanderbibel
begehrt ist nämlich die dicke Speckschicht der Tiere, die bei der Herstellung der berühmt-berüchtigten Murmeltiersalbe Verwendung findet – ein altes Hausmittel, das sich dank cortisonähnlichen Bestandteilen im Tierfett gut bei Gelenkbeschwerden einsetzen lässt. Und ist die Speckschicht erst einmal entfernt, wird aus dem Murmeltier auch noch eine Delikatesse, die zum Beispiel im hinteren Ötztal auf so mancher Speisekarte zu finden ist.
Im Internet habe ich folgendes, aus den sechziger Jahren stammende, durchaus appetitanregende Rezept für ein Murmeltierragout entdeckt: »Ein gehäutetes, gut vom Fett befreites Murmeltier (2–2,5 kg), 3 Zwiebeln, 3 Karotten, etwas Wurzelwerk, ½ l Fleischbrühe, ¼ l Rotwein, Salz, Pfeffer, Wacholderbeeren. Das Murmeltier in gleich große Stücke teilen, salzen, pfeffern und in heißem Fett gut anbraten. Fleischstücke herausnehmen und im Bratenfett Zwiebeln, Karotten, Wurzelwerk, Wacholderbeeren fest anbraten, mit Wein ablöschen. Fleischstücke wieder einlegen, Brühe nachgießen und im Ofen zirka zwei Stunden weich dünsten. Immer wieder übergießen. Am Ende Sauce abgießen, passieren, mit Stärkemehl binden und abschmecken. Dazu passen Bratkartoffeln, Blaukraut und grüner Salat.« Klingt doch äußerst verlockend. Kindcheneffekt hin, Kindcheneffekt her, bei der nächsten Gelegenheit probier ich mal eins.
Murmeltierfreunde, die die possierlichen Erdhörnchen jedoch weder auf ihrem Teller sehen wollen, noch deren Speckschicht zum Einreiben gegen Alterswehwehchen aller Art benötigen, sondern im Gegenteil bei ihrer Wanderung todsicher lebenden Murmeltieren begegnen wol len, kommen nicht um den Murmeltier-Lehrpfad in Avers herum. In der im Schweizer Kanton Graubünden gelegenen 180-Seelen-Gemeinde Avers-Juf, übrigens die am höchsten gelegene ständig bewohnte Siedlung der Alpen, kann man auf einem rund drei Kilometer langen Weg nicht nur zahlreiche Murmeltiere beobachten, sondern erfährt auch auf zwölf Informationstafeln eine ganze Menge über die Lebensgewohnheiten der kleinen Nager.
Allerdings sollte man beim Besuch des Lehrpfades stets auch die Tageszeit berücksichtigen: Zwischen 11 und 15 Uhr halten die alpinen Nager nämlich Siesta.
Das etwas ominöse Sexualverhalten der kleinen Fettsäcke – in der äußerst hierarchisch strukturierten Murmeligroßfamilie pflanzt sich nur das ranghöchste Weibchen, die sogenannte »Katze« mit dem »Bären«, dem ranghöchsten Männchen oder dessen Söhnen (!), fort – kann man jedoch keinesfalls beobachten. Das findet diskreterweise in den unterirdischen Wohnkesseln statt.
Übrigens: Eigentlich handelt es sich beim berühmten Murmeltierpfiff, mit dem die Tiere ihre Artgenossen vor Gefahren warnen, um keinen echten Pfiff, sondern um einen Schrei, denn der »Piff« wird nicht, wie beim Menschen, zwischen den Zähnen hervorgepresst, sondern in der Kehle gebildet und mit geöffnetem Mund ausgestoßen.
Kaum hat man einen Berggipfel erklommen, kommen mit ziemlicher Sicherheit – scheinbar aus dem Nichts – ein paar Alpendohlen angesegelt. Die schlauen Rabenvögel mit den leuchtend roten Beinen wissen nämlich ganz genau, dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der der Durchschnittswanderer seine wohl verdiente Vesper aus dem Rucksack packt. Und da gibt es für die Vögel immer was zu erben: Brötchen, Käse, Wurst, Kekse, Schokolade, was auch immer sich in der Lunchbox des jeweiligen Gipfelbezwingers befindet. Alpendohlen sind, ernährungs technisch gesehen, daran höchst interessiert. Und die meisten Bergwanderer – ein Gipfelerfolg stimmt offensichtlich milde – sind auch gerne bereit zu teilen, und sei es nur, um festzustellen, ob die gefiederten Mitesser auch Kartoffelchips nicht verschmähen. Die meisten Alpendohlen habe ich am Großen Widderstein in den südlichen Allgäuer Alpen gezählt, nämlich 23. Da ist bei der Fütterung ein komplettes Wurstbrötchen draufgegan gen. Ohne Touristen ernähren sich die Vögel freilich deut lich gesünder: Im Bergsommer stehen Insekten, Spinnen und Schnecken auf dem Speisezettel der schwar zen Kunstflieger mit dem gelben Schnabel. Im Herbst mutieren die Vögel dann zu Vegetariern und ernähren sich von Beeren und Früchten.
Auf den Terrassen der größeren Bergrestaurants – ebenfalls sehr ergiebige Futterplätze – stehen ganz klar Pommes oben auf dem Speisezettel der cleveren Rabenvögel. Was sie dann wiederum mit den zahlreichen Kevins und Marvins gemein haben, die dort
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