Die Wanderhure
Diessenhofen, und wie es heißt, soll er auf einem Rheinschiff angeheuert haben, das nach Holland fuhr.«
»Dann hat zumindest ein Mensch an mich geglaubt!«, rief Marie aus.
Vergeblich versuchte sie, sich an Michels Gesicht zu erinnern. Sie hatte vergessen, wie er aussah, aber sie erinnerte sich noch deutlich an seine Stimme an jenem Abend, an dem er sie vor Ruppert gewarnt hatte. Der Junge musste ihren Bräutigam besser gekannt haben als ihr Vater, den die Ehre, den Sohn eines leibhaftigen Grafen als Eidam zu erhalten, blind für die Realität gemacht hatte. Marie wünschte sich im Stillen, dass Michel auf seinem weiteren Weg nicht ebenfalls abgerutscht war und heimatlos über die Straßen ziehen musste, und fürchtete gleichzeitig, dass er seine Treue zu ihr mit dem Leben bezahlt hatte, denn die Schiffer waren ein raues Volk, und der Rhein zog viele in seine Tiefe. Wahrscheinlich hatte Ruppert mit Michel noch einen Menschen mehr auf dem Gewissen. Marie vergoss eine Träne um ihren früheren Spielkameraden und nickte Meister Jörg zu. »Ich danke dir für die Neuigkeiten und bitte dich, mich jetzt allein zu lassen. Ich muss erst mit all dem fertig werden, was ich heute erfahren habe.«
»Das verstehe ich. Es tut mir Leid, dass ich dir keine bessere Kunde bringen konnte. Soll ich deinem Onkel nicht doch von unserer Begegnung berichten?«
Marie schüttelte den Kopf. Jörg Wölfling überlegte, ob er es Mombert nicht trotzdem sagen sollte. Dann dachte er, dass es besser war, den Mund zu halten, denn wenn er von seiner Begegnung mit Marie berichtete, würde es möglicherweise auch Magister Ruppertus zu Ohren kommen, und mit diesem Menschen wollte er nichts zu tun haben.
Er goss den letzten Wein in seinen Becher und stürzte ihn hinab. Da Marie nur wenig getrunken hatte, war das meiste in seinem stattlichen Bauch verschwunden, und der Alkohol machte ihn sentimental. Er erinnerte sich an all die Gastmähler, zu denen Maries Vater ihn eingeladen hatte, und bekam ein schlechtes Gewissen dem Mädchen gegenüber. Mit einem Mal schien sie ihm so schön und rein wie eine Heilige. Was hätte sie für eine tugendsameund vorbildliche Bürgerin werden können! Für einen Augenblick verachtete er sich selbst für seine damalige Schwäche. Seine Hand strich über seine Börse. Seine Vermittlertätigkeit hier in Wallfingen hatte ihm eine hübsche Summe Geld eingebracht, und in einem Impuls löste er die Schnallen, mit denen er die prall gefüllte Geldkatze an seinem Gürtel befestigt hatte, öffnete sie und sah hinein. Dann steckte er sie mit allem, was darin war, Marie zu.
»Hier, nimm, du kannst es sicher brauchen.« Er stand schnell auf, als hätte er Angst, seine Großzügigkeit zu bereuen. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Mögen die Heiligen dich beschützen, Marie.«
»Sagen wir, sie könnten langsam damit anfangen.« Marie erhob sich ebenfalls und reichte ihm zum Abschied die Hand.
Meister Jörg drückte sie kurz und ließ sie dann so abrupt los, als hätte er sich daran verbrannt. Marie blickte ihm nach, bis er hinter dem Stadttor verschwunden war, und kehrte dann zu ihrem Zelt zurück. Als sie Gerlind begegnete, erinnerte sie sich daran, dass diese noch immer das Geld besaß, das Meister Jörg ihr gegeben hatte. Es juckte Marie in den Fingern, der alten Vettel die Summe abzuverlangen. Doch dann zuckte sie mit den Achseln und ging an ihr vorbei. Im Augenblick stand ihr nicht der Sinn nach einer Auseinandersetzung. Außerdem besaß sie nun Meister Jörgs Börse, und darin war weitaus mehr Geld als die paar Schillinge, die Gerlind sich unter den Nagel gerissen hatte.
VI.
D ie Begegnung mit Jörg Wölfling beschäftigte Marie so sehr, dass ihr der Streit zwischen Hiltrud und Gerlind zunächst entging. Die alte Hure wollte ins Badische hinüberwechseln und vondort an den Rhein ziehen, wo sie sich mehr Verdienst versprach. Deshalb wollte sie die Enz aufwärts und dann über die Höhe weiter nach Kämpfelbach und Durlach gehen. Hiltrud war der Meinung, es sei besser, zunächst zum Neckar zu wandern und diesem bis zum Rhein zu folgen. Denn sie hatte auf Burg Arnstein gehört, dass es zu einer Fehde zwischen dem Geschlecht derer von Büchenbruch und den Herren der Riedburg kommen würde. Mechthild von Arnstein war mit den Herren von Büchenbruch verwandt, und deswegen hatte der Streit zwischen den beiden Rittergeschlechtern sogar die Arnsteiner Leibeigenen interessiert. Hiltrud fürchtete, dass sie auf dem von Gerlind
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