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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Lateinischen beizubringen, so dass sie die Gebete, die in der Kirche gesprochen wurden, und die Inschriften an den Wänden der Kathedrale übersetzen konnte. Mittlerweile hatte sie vieles wieder vergessen, aber jetzt ermöglichte ihr der damalige Unterricht, Jodokus’ in lateinischer Sprache geschriebene Notizen wenigstens teilweise zu entziffern.
    Jodokus musste Rupperts Vertrauter oder wahrscheinlich sogar einer seiner Lehrer gewesen sein, denn er schien jeden Schritt des Magisters zu kennen. Marie fand Punkt für Punkt aufgezeichnet, wie ihr ehemaliger Bräutigam vorgegangen war, um Ritter Dietmars Nachbarn Gottfried von Dreieichen und Walter vom Felde durch gefälschte Papiere um ihren Besitz zu bringen. Als sie die anderen Eintragungen überflog, stieß sie auf den Namen ihres Vaters und ihren eigenen. Es war unheimlich, einen Bericht über das eigene Schicksal zu lesen. Die Marie auf dem Pergament schien eine Fremde zu sein, ein Mädchen, das nach Jodokus’ Überzeugung die Folgen seiner Misshandlung und der Vertreibung nicht lange überlebt haben konnte. Zu ihrem Glück hatte er trotz der zutreffenden Beschreibung in seinen Notizen die Wanderhure Marie bisher nicht mit Matthis Schärers Tochter in Verbindung gebracht.
    Jodokus schilderte ausführlich, wie Ruppertus vorgegangen war, um das Vermögen des reichen, aber einflusslosen KonstanzerBürgers Matthis Schärer an sich zu bringen. Hiernach war das Verbrechen schon geplant gewesen, bevor die Opfer dafür feststanden. Der Fuhrmann Utz war für Ruppertus Splendidus auf die Suche nach einem geeigneten Kandidaten gegangen und hatte ihm empfohlen, sich ihrem Vater als Eidam anzubieten. Utz hatte gewusst, dass Linhard ein Auge auf sie geworfen hatte und von ihrem Vater harsch abgewiesen worden war. So hatte er ihn dazu bringen können, gegen sie auszusagen und an der Vergewaltigung teilzunehmen. Utz war es auch gewesen, der die Witwe Euphemia zu seinem willfährigen Werkzeug gemacht hatte, um sie später, als sie Ruppert zu erpressen versuchte, umzubringen. Marie schauderte vor der menschlichen Verworfenheit, die hier in schlechter Tinte auf dünn geschabtem Pergament aufgezeichnet worden war, so als wäre es ein Dokument aus grauer, dämonenbeherrschter Vorzeit. Die Dämmerung hinderte sie daran, weitere Schandtaten ihres ehemaligen Bräutigams zu entziffern. Sie hatte sich sowieso schon länger mit den Unterlagen aufgehalten, als gut für sie war, denn sie musste verschwunden sein, bevor Jodokus seinen Besitz von ihr zurückfordern konnte. Für einen Augenblick überlegte sie, auf der Stelle davonzulaufen, ohne auf Hiltrud zu warten. Die Freundin hatte inzwischen die Kammer sauber gemacht und danach die Herberge verlassen, war aber bis jetzt nicht zurückgekehrt. Marie fiel jedoch noch rechtzeitig ein, dass Jodokus oder Rupperts Leute ihren Ärger an Hiltrud auslassen und sie wahrscheinlich umbringen würden. Also musste sie auf sie warten, auch wenn der Boden zu ihren Füßen zu brennen schien.
    Vom Münsterturm schlug es acht Uhr. In einer halben Stunde würde es dunkel sein und Jodokus sich mit Rupperts Abgesandten treffen. Marie reizte der Gedanke, heimlich Zeugin dieses Gesprächs zu werden. Sie kämpfte einige atemlose Augenblicke gegen die Neugier an, die wie eine unwiderstehliche Woge über sie rollte und alle Vernunft hinwegzuspülen drohte. Dann gab siedem Gefühl nach, raffte die Schriftstücke zusammen und wickelte sie wieder in die Ölhaut. Da sie das Päckchen nicht in der Herberge zurücklassen wollte, legte sie es in ihr Schultertuch und knotete die Enden so über ihrer Brust zusammen, dass sie es wie ein Kind auf dem Rücken trug, und verließ ungesehen das Haus. Jodokus war zuletzt doch noch redselig geworden und hatte ihr erzählt, dass er sich bei einer besonders großen Weide an der Ill, gut hundert Schritt vom Hafentor entfernt, einfinden sollte. Marie hatte den Baum bald entdeckt und hielt Ausschau nach den Umrissen eines Menschen. Dabei näherte sie sich so verstohlen, dass sie kaum entdeckt werden konnte. Doch so viel Vorsicht wäre nicht nötig gewesen, denn es hielt sich niemand in der Nähe des Baumes auf. Kurz entschlossen lief sie zum Ufer hinunter und verkroch sich in einen Busch. Es schienen Stunden zu vergehen, bis ein Mann vom Hafentor herabkam. Am Gang erkannte sie Jodokus, der sich in seinen Übermantel gehüllt hatte und wie ein grauer Schatten durch die Dämmerung glitt. Er schien höchst nervös zu sein, denn er sah sich

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