Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
Burgherr ausdenken würde. Und wie würde er seinen Bruder zum Schweigen bringen? Wenn der dem Fürstbischof berichtete, welche gotteslästerlichen Dinge sich in der Höhle ereignet hatten, würde ihm das Amt des Truchsess verweigert werden. Andererseits, ob Reimar überhaupt noch am Leben war? War er nicht wie ein gefällter Baum zusammengesackt. Was, wenn Reimar von seinem Bruder erschlagen worden war? Und Arigund? Was würde mit der Herrin geschehen? Es war ihr furchtbar, sie in großer Not zurückgelassen zu haben. Aber was konnte eine einfache Zofe schon ausrichten? Mit einem Mal wusste Annelies, was sie tun konnte. Es gab nur einen einzigen Menschen, der ihnen beiden helfen konnte: Antonio DeCapella. Wenn es ihr gelang, Regensburg zu erreichen, dann waren sie beide in Sicherheit.
Jetzt, wo sie ein Ziel vor Augen hatte, spürte sie neue Energien in ihren Körper strömen. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie weit es bis in die große Stadt war – damals hatte die Reise drei Tage gedauert –, aber an den Weg konnte sie sich gut erinnern. Munter schritt das Mädchen aus und erreichte ungehindert am späten Vormittag die Weggabelung, an der es links nach Falkenstein weiterging und rechts bergabwärts Richtung Werth. Als sie sich näherte, erspähte sie eine wartende Gestalt, die am Straßenrand kauerte. Der rote Haarschopf war unverkennbar. Dennoch war das Mädchen vorsichtig. Es konnte sich auch um eine Falle handeln. Noch konnte man sie nicht gesehen haben. Sie bog in den Wald ab und lief parallel zur Straße. Je weiter sie kam, desto vorsichtiger trat sie auf. Noch immer sah es so aus, als wäre Matthias allein. Er saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und schien tatsächlich zu weinen. Annelies machte einen weiten Bogen um ihn herum und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass Arigunds Maultiere neben ihm an einem Baum festgemacht waren. Genüsslich fraßen sie die Blätter von den Ästen. Ansonsten schien alles ruhig. Noch einmal lauschte die Zofe in alle Richtungen. Dann warf sie vorsichtig ein Steinchen auf Matthias’ Rücken. Der zuckte zusammen und sprang auf. Geschickt duckte sie sich unter die Äste eines Bergahorns.
»Annelies?«, rief der Knecht. »Bist du das?«
Hektisch drehte sich der junge Mann herum. »Annelies! Wenn du da bist, dann komm bitte!«
Ein weiteres Steinchen traf ihn und lockte ihn in den angrenzenden Wald. Mit klopfendem Herzen erhob sich das Mädchen.
»Pst!«, machte Annelies.
Der Knecht schnellte herum und flog in ihre Arme. »Dass ich dich wiederhabe, meine Annelies. Ich bin so froh!«
Doch sie befreite sich rasch.
»Bring die Maultiere ins Gebüsch, bevor man sie sieht!«, befahl sie. »Wie kommst du überhaupt dazu, sie der Herrin zu stehlen?«
Matthias tat brav wie ihm geheißen, band die beiden Braunen los und zog sie hinter eine große Tanne.
»Ich hab sie nicht gestohlen. Sie sollen nur nach Regensburg zurückgebracht werden. Das jedenfalls habe ich den Pferdehirten gesagt. Herr Wirtho hatte sie denen nämlich aufs Auge gedrückt, weil er meinte, sie seien für nichts mehr nütze, und Frau Arigund wollte sie ja unbedingt behalten.«
»Dorthin hat er sie also gebracht. Ich hatte mich schon gewundert, wo sie abgeblieben waren.«
»Zum Glück waren die Pferdehirten wegen der Trauerfeier gerade ganz in der Nähe. Es war nicht schwer, sie zu überzeugen. Die Burschen waren richtig froh, als ich sie mitnahm. Die störrischen Viecher hatten ihnen jede Menge Ärger bereitet.«
»Wird man sie nicht vermissen?«, fragte Annelies. Pferdediebstahl war schließlich ein schweres Vergehen.
»Im Herbst sicher, doch bis dahin sind wir weit weg.«
»Und die Hirten?«
»Sind heute Morgen schon in aller Frühe weitergezogen. Sie sind ja eh nicht gern gesehen.«
»Wie kommt es, dass du hier auf mich wartest? Du wolltest doch nicht weglaufen.«
Matthias schlang die Arme um seine Frau. »Du bist mein Ein und Alles, Annelies. Ich wachte heute Nacht auf und fand das Bett leer vor. Deine Sachen waren weg. Mir war klar, dass du deinen Plan in die Tat umgesetzt hast. Da bin ich dir nach. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht und um das Kind.«
Behutsam küsste er sie auf die Stirn. »Ich will dich nicht verlieren. Bitte tu das nie wieder.«
Annelies schmiegte sich an ihn: »Wenn du wüsstest, was heute Nacht alles geschehen ist. Doch still, ich höre etwas. Lass uns weiter in den Wald gehen. Gewiss sucht man uns bereits.«
»So schnell? Warum das?«
Doch Annelies hatte
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