Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
schlug der Pater vor. »Vielleicht ist Reimar ja inzwischen dort.«
Zu gern hätte Arigund dem Vorschlag zugestimmt. Es gab mittlerweile nicht einen trockenen Faden mehr an ihrem Gewand. Trotzdem deutete sie auf die Eiche am anderen Ende der Weide. »Ich glaube, dort drüben ist etwas!«, rief sie und machte sich von Pater Anselms Hand los. Der schüttelte den Kopf und folgte dem Mädchen widerstrebend. Mehr rutschend und immer wieder hinter den mächtigen Steinen Schutz suchend, überquerten die beiden den Hang und erreichten endlich die Gruppe mit der mächtigen Eiche. Atemlos schlüpfte Arigund zwischen den niedrig hängenden Ästen durch. Pater Anselm folgte ihr zögernd. Er wusste nur zu gut, welch sündiges Treiben sich am Fuße dieses Stammes schon zugetragen hatte, und es passte ihm gar nicht, dass Arigund die Stelle offensichtlich kannte. Er würde sie in der nächsten Beichte danach fragen müssen. Hatte er sich durch ihre Engelsstimme und ihre unschuldigen Augen täuschen lassen? Doch es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzusinnen. Ein spitzer Schrei fesselte seine Aufmerksamkeit.
»Reimar!«, rief Arigund. »Da bist du ja.«
Wirthos Bruder hockte zusammengekauert neben einem mächtigen Schaf, das schwer atmend neben ihm lag. Auf seinem Schoß hielt er ein, nein zwei strampelnde Lämmer. Auch er schien erleichtert, als er das Mädchen und den Pater entdeckte.
»Der Heiligen Jungfrau sei Dank«, seufzte er erleichtert.
»Du machst vielleicht Sachen, mein Sohn«, mahnte Pater Anselm. »Wir waren in heller Aufregung um dich.«
Der Knappe zuckte linkisch mit den Schultern. »Ich musste doch nach Löckchen suchen. Sie war nicht bei der Herde, und der Hirte wusste nicht, wo sie geblieben war. Mutter wäre untröstlich gewesen, wenn wir sie verloren hätten.«
Sanft streichelte er über den kantigen Kopf des Tieres. »Schaut, sie dankt uns unsere Fürsorge gleich mit zwei Lämmern.«
»Ich schätze, die Herrin Kunigund wäre noch viel aufgebrachter gewesen, wäre dir etwas geschehen, mein Sohn«, tadelte Pater Anselm. »Jedenfalls sollten wir uns sputen, zur Burg zurückzukommen.«
»Das wird nicht so einfach sein«, meinte Reimar. »Löckchen ist von der Geburt sehr mitgenommen. Sie ist zu schwach, um durch den Sturm zu laufen.«
Der Pater kniete sich neben das Schaf und tätschelte seinen Leib. »Wir werden sie tragen müssen«, stellte er fest.
»Bei dem Sturm?«, wandte Arigund ein. »Wir sind ja kaum den Berg heruntergekommen. Wie sollen wir da wieder hinaufgelangen?«
»In der Tat«, stimmte Reimar zu. »Vor allem, weil ich mir den Knöchel verstaucht habe, als ich es vorhin allein mit den beiden Lämmern versuchte.«
»Besser, wir bleiben hier, bis sich das Wetter verzogen hat.«
Der Pater schaute bedenklich drein. »Dann wird es allerdings stockfinstere Nacht sein, und wir werden keine Fackel haben, uns den Weg zu leuchten. Ich denke, ich gehe besser Hilfe holen. Ihr bleibt hier und nehmt euch vor den Schweinen in Acht.«
Arigund sah zu Reimar. Der deutete ihren Blick falsch und meinte: »Fürchte dich nicht, Arigund! Ich werde dich beschützen.« Mit der Hand wies er auf ein fein gearbeitetes Messer, das griffbereit neben ihm lag.
Ungewollt musste das Mädchen lächeln. Der Pater nickte lediglich und sagte: »Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
Nach dem nächsten Blitz war er verschwunden. Unschlüssig stand Arigund da und blickte auf den schmächtigen Jungen herunter. Reimar streckte seine Hand aus.
»Magst du dich nicht zu mir setzen?«, lud er sie ein. Arigund sah in sein bleiches Gesicht. Seine Lippen zitterten vor Kälte, und seine Hand war eiskalt. Auch Arigund fror erbärmlich, aber sie hatte wenigstens Pater Anselms Mantel. Wortlos setzte sie sich neben den Jungen, und schlang das Kleidungsstück um sie beide.
»Wir sollten lieber Löckchen damit zudecken«, meinte Reimar. »Ich glaube, sie hat viel Blut verloren.«
Der Junge streichelte dem Schaf besorgt über den Hals. Das Tier hob den klobigen Kopf und blökte leise nach seinen Lämmern. Strampelnd versuchte es, auf die Beine zu kommen, doch es war einfach noch zu schwach. Reimar sah Arigund flehend an, als müsste sie wissen, was jetzt zu tun sei.
»Aber was ist denn mit dir?«, fragte das Mädchen unsicher und schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist vollkommen durchgefroren und wirst dir den Tod holen.« Was kümmerte den Knappen ein Schaf mehr oder weniger? Fanden nicht alle früher oder später den Tod
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