Die Wasser des Mars
halten, wenn sie die Wahrheit erfahren hätten?
Wenn ich der Chronik glaube, dann muß ich die kalte Entschlossenheit Bernhard Staschs bewundern, mit der er die Seinen zur ersten Bestandsaufnahme auf ihre Stationen schickte. Stunden später trafen sie sich erneut, und die fehlende Schwerkraft zwang sie, sich in ihren Sesseln festzuschnallen.
Und dann saßen die vier Frauen und sieben Männer vor ihm, diese Menschen, die sich zusammen mit ihm auf die Expedition begeben hatten, um das Phänomen des Uranushalo zu klären. Und Bernhard Stasch fragte sich, wen von ihnen er denn näher kennengelernt hatte in den vergangenen Monaten. Die schmale Dorit oder die dunkle Karen, den jungen Laser oder den massigen Berger? Keinen von ihnen, mußte er sich sagen. Sie hatten sich zusammengefunden, um in einem genau umrissenen Zeitraum eine Aufgabe zu lösen, mehr nicht.
Aber nun hatte sich alles geändert, völlig geändert.
Er forderte Bilanz, und er forderte sie zuerst von Dorit, der jungen Versorgungsingenieurin. Als er sie anblickte, sah er, daß das Weiße in ihren Augen rot unterlaufen war.
Die folgende Unterhaltung hat er Wort für Wort in der Chronik verzeichnet. Wohl als leuchtendes Beispiel für Kleingläubige. »Luftgeneratoren und Wasseraufbereitungsanlagen sind intakt, wenn man von einem zehnprozentigen Ausfall der Algenkolonne absieht. Reparaturaufwand etwa vier Tage. Keine besonderen Probleme.«
Dann schwieg Dorit, und Stasch mußte sie erst erneut auffordern, einen Bericht über den Zustand der Eiweißkolonnen zu geben, ehe sie sich entschloß, ihm mitzuteilen, dort sähe es wesentlich schlechter aus. »Was ist mit den Eiweißkolonnen?« fragte er.
Sie hob die Schultern. »Durch die Beschleunigung sind eine Menge von Nervenleitungen zwischen Hirn und Kolonne gerissen. Nur noch etwa fünf Prozent der Masse werden gesteuert. Der Rest ist bereits abgestorben.«
»Und?«
Sie blickte ihn fragend an, und ihre rotgeäderten Augen brachten ihn fast aus der Fassung.
»Weiter, weiter, zum Teufel!« herrschte er sie an. »Wir haben die Zerstrahlung der paralysierten Teile veranlaßt, um das restliche Eiweiß zu retten.«
»Ausgezeichnet!« lobte er. »Und was wird nun?«
Schulterzucken. »Wir werden mindestens einen Monat lang warten müssen, ehe sich die Kolonne erholt hat.«
Dann soll sich das Gesicht der jungen Frau verzogen haben, als wollte sie im nächsten Augenblick in hemmungsloses Schluchzen ausbrechen. Aber nichts dergleichen geschah. Dorit soll sich aufgerichtet und gesagt haben: »Machen Sie sich keine Sorgen, Kommandant. Wir werden es schaffen.«
Solche Menschen waren unsere Ahnen. Sie waren Helden. Hätten sie sonst durchgehalten? Und Dorit wäre auch ein Held gewesen, wenn sie angefangen hätte zu weinen, haltlos vielleicht und doch befreiend, und wenn sie gefragt hätte: »Kommt es denn darauf noch an, Kommandant?«
Vor mir flimmert der Bildschirm. Das Sternchen in seiner Mitte, die Sonne, hat sich zu einem faustgroßen Glutball ausgedehnt. Welch ungewöhnliche Gedanken provoziert diese gelbflimmernde Scheibe, die dort in Fahrtrichtung langsam, aber stetig heranwächst und deren Nähe ich jetzt plötzlich als Bedrohung empfinde. Die Alten behaupteten, daß sie es sei, die der Erde und damit der Menschheit das Leben spende. Wir aber sind bisher ohne sie ausgekommen, ob gut oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls scheint es der Anblick dieser Sonne zu sein, der mich zweifeln läßt am Heldentum unserer Vorfahren.
Da sind Hinweise im Buch, die mir bisher nie aufgefallen sind, obwohl ich sie mehr als nur einmal gelesen habe, Sätze, die ich jetzt in einem ganz anderen Licht sehe. Vielleicht ist es das Licht der Sonne, das mich hellsichtig macht.
Hier steht, daß sich in der zweiten Generation Unstimmigkeiten über den genetisch notwendigen Verbindungsmodus von Vater und Mutter ergaben. Von uns würde niemand auf den Gedanken verfallen, der aus zwingender Notwendigkeit entstandenen Kopulationstabelle zuwiderhandeln zu wollen, obwohl diese Notwendigkeit für uns nicht mehr existiert. Was ist das für ein eigenartiges Gefühl zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, das sich auf einen ganz bestimmten Partner orientiert, einen anderen jedoch mit gleicher Inbrunst ablehnt? Wie kann ein Gefühl entstehen, das nur zwischen zwei Menschen existiert und nie und nimmer auf einen anderen übertragen werden kann, auch dann nicht, wenn es die Genetik als dringend erforderlich erscheinen
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