Die Weimarer Republik
die Gewerkschaften bzw. die SPD von der staatlichen Macht fernhalten, um durch Lohn- und Sozialabbau wieder zu erträglichen Kosten zu kommen. Doch obwohl die kollektive Lohnsumme stärker gestiegen war als der Produktivitätszuwachs, lag das individuelle reale Lohneinkommen infolge höherer Sozialbeiträge, Steuern und Abgaben unter dem Vorkriegsniveau (außer 1928/29). Um das Existenzminimum zu gewährleisten, stiegen die Löhne der Ungelernten daher stärker als die der Facharbeiter, die der unteren Beamten stärker als die der höheren. Allerdings erzielte die Arbeiterschaft innerhalb des Konsumentenlagers einen relativen Vorteil. Der Anteil der Einkünfte aus Kapitalvermögen am Volkseinkommen ging von 12,5 % 1913 auf 4,2 % 1929 zurück, der aus Handel und Gewerbe von etwa 20 auf 15 % 1929, ebenso der aus Mieten und Pachten. Dagegen wuchsen die Einkünfte aus Renten und Pensionen von 3 auf 12 % 1929 – eine Folge des Krieges, der steigenden Lebenserwartung und der Expansion des Sozialstaates.
Die Schwerindustrie ergriff die Initiative, um die Forderung nach Lohnabbau durchzusetzen. Am 30. Oktober 1928 lehnte sie eine Verbindlichkeitserklärung in der nordwestdeutschen Stahlindustrie ab und forderte mit der Aussperrung von 200.000 Arbeitern auch den Staat heraus. Der unterstützte die Ausgesperrten, woraufhin die Maßnahme zurückgenommen wurde. Ein neuer Schiedsspruch kam den Arbeitgebern bei den Löhnen entgegen, den Gewerkschaften bei der Arbeitszeit. Die Aktion der Arbeitgeber richtete sich nicht nur gegen das Instrument der Schlichtung oder die angeblich einseitige Spruchpraxis zugunsten der Gewerkschaften, sondern vor allem gegen die Große Koalition. Umgekehrt bestärkte das Ergebnis des «Ruhreisenstreites», des politisch wohl wichtigsten Arbeitskampfes der Republik, die Gewerkschaften, die Zwangsschlichtung der Tarifautonomie vorzuziehen, die später zum Instrument des Lohn- und Sozialabbaus wurde. Wie die Parteien hatten die Sozialpartner den Rollenwechsel zu Autonomie und Kompromiss nicht bewältigt. Die staatliche Schlichtung hobden Einigungszwang auf. Die Verantwortung wurde auf den Staat abgeladen, der sich «zwischen den Klassen» als überfordert erwies.
Die Rolle des Staates war auch der Kern der Konflikte um die Arbeitslosenversicherung. Obwohl diese 1927 mit Zustimmung der Konservativen zustande gekommen war, sollte sie beim Scheitern der Großen Koalition 1930 eine zentrale Rolle spielen. Seit dem Weltkrieg hatte ein Wandel vom Fürsorge- zum Anspruchsprinzip eingesetzt. Am 15. Oktober 1923 war das Versicherungsprinzip eingeführt worden, um den Staat aus der finanziellen Verantwortung zu befreien. Obwohl jeder Beschäftigte Zwangsbeiträge zahlte, blieb als Relikt des Fürsorgeprinzips der Nachweis der Bedürftigkeit, auf deren Prüfung die Arbeitgeber bestanden. Zwar anerkannten sie, dass Arbeitslosigkeit ein «dauerhaftes Merkmal des industriellen Lebens» war und die Arbeitslosenversicherung die Kosten auf die Gesellschaft verlagerte; doch würde mit dem von den Gewerkschaften geforderten Anspruchsprinzip der Finanzbedarf und damit ihr Beitrag steigen, der ökonomische Arbeitszwang für die Arbeiter sinken. Wenn es gleichwohl zur Ausdehnung von Leistungen und Empfängerkreis kam sowie zur Verknüpfung von Arbeitsmarkt- und Konjunkturpolitik, so war das ein Signal für den Übergang zum Interventions- und Sozialstaat.
Doch die Finanzierung war von Beginn an bedroht. Man hatte zugunsten eines politischen Kompromisses eine niedrige Zahl von Arbeitslosen angesetzt, wie sie in der Hochkonjunktur 1927/28 gegeben war. Durch den Beitragssatz von 3 %, der je zur Hälfte auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfiel, konnten ca. 700.000 Arbeitslose finanziert werden, durch staatliche Zuschüsse weitere 400.000, insgesamt 1,1–1,3 Mio. Als im Februar 1929 die Marke von 2,6 Mio. Hauptunterstützten erreicht wurde und im Juli nicht unter 1,5 Mio. sank, war eine Reform unumgänglich. Wieder gingen die Konflikte über die Finanzierungsfrage weit hinaus. Weite Kreise der Unternehmer waren seit 1928 überzeugt, die Gesundung der Wirtschaft erfordere die Durchsetzung des Primats der Wirtschaft gegenüber der Sozialpolitik. Doch warum 1928 und noch vor dem Beginn derWirtschaftskrise? Es war der Linksruck in den Wahlen von 1928. Der zur Kooperation mit SPD und Gewerkschaften bereite Flügel der Industrie bejahte zwar Republik und Verfassung, wehrte sich aber dagegen, dass Letztere zum «Instrument
Weitere Kostenlose Bücher