Die weise Frau
konnte man den Fluß nicht sehen — im Gemach des alten Lords hoch oben im alten Turm konnte man den Burghof weder hören noch sehen.
Alys verbrachte soviel Zeit wie möglich mit dem alten Lord in seinem kleinen Turmzimmer. Dort war es warm, und der alte Lord und David waren eine stille, angenehme Gesellschaft. Sie schrieb, wie ihr befohlen, verhaltene Kondolenzbezeugungen an Prinzessin Mary zum Tod ihrer Mutter, der Prinzessinmutter Katharina von Aragon, sie las dem alten Lord aus unzüchtigen, unglaubwürdigen Romanzen vor und lauschte seinen Anekdoten und Erinnerungen an Schlachten und Turniere aus der Zeit, als er noch jung und stark gewesen war und Hugo noch nicht einmal geboren.
Die Stimmung in den Damengemächern über der Großen Halle war angespannt. Lady Catherine schwankte zwischen hysterischer Fröhlichkeit und tiefen Angstzuständen; dann wieder saß sie seufzend und tatenlos an ihrem Webstuhl. Die Damen zankten wie Tiere im Käfig. Und ein- oder zweimal die Woche erschien Hugo mit einem Krug Met im Frauengemach.
Der Abend begann dann meist recht fröhlich, die Frauen tanzten, und Lady Catherine war außer sich vor Erregung. Hugo trank dann immer reichlich, und seine Witze wurden immer unzüchtiger. Wenn Eliza in der Nähe war, packte er sie und liebkoste sie unverhohlen vor seiner Frau und den anderen Damen. Dann stellte er jedesmal den Krug auf den Kopf und schleuderte ihn in Richtung Kamin, packte Lady Catherine am Handgelenk und zerrte sie in ihr Schlafgemach. Während die Damen das Zimmer aufräumten, die Scherben aufkehrten und die Gläser auf einer Seite des Schrankes anordneten, konnten sie Catherines laute Schmerzensschreie und ihre keuchenden, unverhohlenen Schluchzer der Lust hören. Um zwei Uhr morgens, so sicher wie das Amen im Gebet, würde Hugo dann seine Frau aus der Leinenschnur befreien, mit der er sie immer an sich band, und mit trübem Blick und schlechter Laune in sein eigenes Bett stolpern.
»Widernatürlich ist das«, sagte Eliza eines Nachts zu Alys. Die Kerze war gelöscht, und sie lagen im Dunkeln. In den anderen Ecken des Raumes hörten sie das ruhige Atmen von Mistress Allingham und Ruths dröhnendes Schnarchen. Eliza hatte längst aufgehört, über die Ausschweifungen von Lord Hugo und seiner Gattin zu lachen.
»Hast du sie heute abend gehört?« fragte Eliza. »Ich denke, sie ist verhext. Das ist einfach widernatürlich, wenn eine Frau so um einen Mann bettelt wie sie. Und sie läßt sich alles von ihm gefallen.«
»Still«, sagte Alys. »So ist sie eben. Und sie wird heute nacht gut schlafen und morgen bester Laune sein. Und bald werden wir wissen, ob sie schwanger ist.«
Alys sagte nichts mehr, und bald atmete Eliza ruhig und regelmäßig und breitete sich über Alys' Bettseite aus. Eine Stunde lang lag Alys schlaflos in der Dunkelheit und beobachtete, wie der kalte Finger des Mondlichts sich über die Decke tastete, und lauschte Elizas ersticktem Schnarchen. Dann glitt sie leise aus dem Bett und ging hinaus in die Galerie und warf ein paar Scheite und eine Handvoll Kiefernzweige aufs Feuer. Die Zweige spritzten kleine Flammen, und ein scharfer Harzgeruch erfüllte den Raum. Alys atmete ihn ein und setzte sich auf das warme Schaffell vor dem Feuer.
Die Burg war in vollkommene Winterfinsternis gehüllt. Alys kam sich vor, als wäre sie das einzige Wesen auf der ganzen Welt, das noch wachte oder gar am Leben war. Die Glut des Feuers formte sich zu kleinen Burgen und Höhlen. Alys blieb ein Weilchen lang schweigend sitzen, dann raschelte das Feuer und holte sie aus ihren Träumen zurück. Sie warf ein kleines Scheit in die Glut und beobachtete, wie es Feuer fing, schwarz wurde und dann in Flammen aufging.
Ganz leise öffnete sich hinter ihr die Tür von Lady Catherines Schlafgemach, und Hugo kam heraus. Er trug nur eine Hose, Brust und Rücken waren nackt, seine Stiefel, sein Hemd und sein Wams hielt er in den Händen. Als er Alys so still vor dem Feuer sitzen sah, blieb er überrascht stehen. Dann ging er auf sie zu.
»Alys«, sagte er.
»Hugo«, erwiderte sie. Sie hob den Kopf nicht, um ihn anzusehen, und war auch nicht vom Klang der Stimme in einem leeren Raum erschrocken.
»Hast du gewußt, daß ich da bin?« fragte er.
»Ich weiß immer, wenn du in der Nähe bist«, sagte Alys. Ihre Stimme war verträumt. Hugo spürte, wie er erschauerte, als er sich ihr näherte, als träte er in einen Kreis großer Macht.
»Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen«, sagte
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