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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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vorüber:
    »Fähnrich Morskoi«
    Ein Schlitten flitzte vorbei.
    »›Nachrichten‹!« gellte ein heiserer Alt an Turbins Ohr.
    Turbin holte das zerknüllte Blatt aus der Tasche und stieß es, außer sich vor Erregung, dem Jungen zweimal ins Gesicht, wobei er zähneknirschend sagte:
    »Da hast du! Da hast du! Da hast du Nachrichten! Du Aas!«
    Damit war sein Wutanfall verflogen. Der Junge ließ die Zeitungen fallen, rutschte aus und setzte sich in eine Schneewehe. Sein Gesicht verzog sich zu unechtem Weinen, aber die Augen füllten sich mit echtem, wildem Haß.
    »Was ist … Warum … Weshalb schlagen Sie mich?« näselte er, bemühte sich zu heulen und suchte mit den Händen etwas auf dem Schnee. Ein Gesicht glotzte Turbin erstaunt an, fürchtete sich aber, etwas zu sagen. Von Scham und Pein gepackt, zog Turbin den Kopf ein, drehte sich schroff um und lief, vorbei an einer Gaslaterne, der weißen Wand des riesigen runden Museums, an aufgewühlten Gruben mit schneebedeckten Backsteinen, zu dem bekannten riesigen Platz – dem Hof des Alexander-Gymnasiums.
    »›Nachrichten‹! Das demokratische Tageblatt!« hörte er von der Straße her.

    Das dreistöckige, hundertachtzigfenstrige, riesige Gebäude des wohlvertrauten Gymnasiums rahmte als offenes Rechteck den Hof. Acht Jahre hatte Turbin hier verbracht, acht Jahre lang war er im Frühjahr während der Pausen auf diesem Hof umhergelaufen und hatte ihn im Winter, wenn er tief verschneit und die Klassenzimmer voll stickigen Staubs waren, vom Fenster aus betrachtet. Acht Jahre lang hatte das steinerne Gebäude Turbin und die jüngeren Karausche und Myschlajewski erzogen und unterrichtet.
    Und genau vor acht Jahren hatte Turbin den Garten des Gymnasiums zum letztenmal gesehen. Sein Herz verkrampfte sich vor grundloser Angst. Ihm schien plötzlich, daß eine schwarze Wolke den Himmel verdeckte und daß ein Wirbelwind das ganze Leben weggefegt hätte, so wie eine riesige Woge eine Anlegestelle wegspült. Oh, die acht Lehrjahre! Wieviel Sinnlosigkeit, Trauer und Verzweiflung hatten der Knabenseele zugesetzt, aber auch wieviel Freude! Grau ein Tag wie der andere, ut consecutivum, Gajus Julius Cäsar, schlechte Zensur in Kosmographie und ewiger Haß auf die Astronomie seit dieser Zensur. Dafür aber gab es Frühling, Frühling und Gepolter in den Klassenzimmern, Gymnasiastinnen mit grünen Schürzchen auf dem Boulevard, die Kastanien und den Mai und das Wichtigste, ewiger Leuchtturm vorn – die Universität, die freies Leben verhieß. Verstehen Sie, was die Universität bedeutet? Sonnenuntergang am Dnepr, Freiheit, Geld, Kraft, Ruhm.
    Und nun hatte er das alles schon hinter sich. Die ständig geheimnisvollen Augen der Lehrer und die schrecklichen Bassins, die ihm noch jetzt in Träumen erscheinen, aus denen ewig Wasser fließt, das aber nie alle wird, und die komplizierten Erörterungen darüber, wodurch sich Lenski von Onegin unterscheidet und wie häßlich Sokrates war und wann der Jesuitenorden gegründet wurde und wann Pompejus an Land ging und noch jemand und wieder ein anderer im Lauf von zweitausend Jahren.
    Damit nicht genug. Nach acht Gymnasiumsjahren, nun schon ohne Traumbassins, die Leichen in der Anatomie, weiße Krankenzimmer, gläsernes Schweigen in den Operationssälen und dann drei Jahre im Sattel, fremde Wunden, Qualen und Erniedrigungen – oh, du verfluchtes Bassin des Krieges! Und jetzt war er wieder auf demselben Hof, im selben Garten. Ziemlich krank und nervös lief er darüber, umklammerte in der Tasche den Browning, lief weiß der Teufel wohin und weshalb. Wahrscheinlich, um dieses Leben, diese Zukunft zu verteidigen, um derentwillen er sich mit den Bassins und mit den verdammten Fußgängern, von denen einer am Punkt »A« und ein anderer am Punkt »B« losgegangen war, herumgequält hatte.
    Von den schwarzen Fenstern ging vollständige und düstere Ruhe aus. Man sah auf den ersten Blick, daß es eine tote Ruhe war. Merkwürdig, im Zentrum der STADT, mitten in Zerfall, Brodeln und Unruhe, war ein totes Dreideckschiff stehengeblieben, das einst Zehntausende von Leben ins offene Meer getragen hatte. Niemand mehr schien es zu bewachen, überall war es still, keine Bewegung in den Fenstern und an den gelbgestrichenen Wänden. Eine unberührte Schneeschicht lag auf den Dächern, saß mützengleich auf den Kronen der Kastanien, bedeckte glatt den Hof, und nur ein paar Fußspuren zeigten, daß der Schnee gerade erst begangen worden war.
    Und das

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