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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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Seifendose, Zigaretten, Streichhölzer, Uhr – auch das geheimnisvolle Frauenbild seinen Platz, aber Lariossik wanderte noch immer an den mit Büchern vollgestellten Wänden entlang oder hockte vor den unteren Reihen dieser Fundgrube und betrachtete gierig die Umschläge, unschlüssig, was er zuerst in Angriff nehmen sollte – »Die Pickwickier« oder den »Russischen Boten« von 1871. Die Zeiger standen auf zwölf.
    Aber in der Wohnung nahm mit der Dämmerung mehr und mehr die Trauer zu. Deshalb schlug die Uhr nicht zwölfmal, die Zeiger standen unbeweglich und glichen einem blinkenden Schwert, in einen Trauerflor gewickelt.
    Schuld an der Trauer, schuld an der Unstimmigkeit der Lebensuhren all derer, die an der verstaubten Gemütlichkeit des Hauses Turbin hingen, war die dünne Quecksilbersäule in Turbins Schlafzimmer. Um drei Uhr zeigte sie 39,6. Jelena erblaßte, wollte sie herunterschlagen, aber Turbin wandte den Kopf, wies mit den Augen auf das Thermometer und sagte mit schwacher, doch nachdrücklicher Stimme: »Zeig!« Wortlos und unwillig reichte ihm Jelena das Thermometer. Turbin warf einen Blick darauf und seufzte tief.
    Um fünf Uhr lag er da, auf dem Kopf den grauen Eisbeutel, in dem das kleingehackte Eis taute. Sein Gesicht war gerötet, die Augen glänzten und waren sehr schön.
    »Neununddreißig sechs … allerhand«, sagte er und beleckte von Zeit zu Zeit die trockenen, aufgesprungenen Lippen. »Soso … Alles kann vorkommen … Mit der Praxis wird es jedenfalls zu Ende sein … für lange Zeit. Wenn ich bloß den Arm behalte, was bin ich ohne Arm.«
    »Aljoscha, schweig doch«, bat Jelena und zog ihm die Decke über die Schulter, Turbin schloß die Augen und lag still. Von der Wunde an der linken Achselhöhle breitete sich eine trockene, stechende Hitze über den ganzen Körper aus. Zeitweilig füllte sie die Brust und umnebelte den Kopf, die Füße aber waren unangenehm kalt. Gegen Abend, als überall schon Lampen brannten und die drei – Jelena, Nikolka und Lariossik – schweigend und sorgenvoll das Mittagessen längst beendet hatten, schwoll die Quecksilbersäule auf zauberhafte Weise aus dem festen Kügelchen bis hoch zum Teilstrich 40,2. Da lösten Trauer und Unruhe im rosa Schlafzimmer sich plötzlich auf und verschwammen. Die Trauer, die wie ein grauer Klumpen auf der Decke gesessen hatte, verwandelte sich in gelbe Saiten, die sich hinzogen wie Wasserpflanzen im Wasser. Die Praxis und die Angst vor dem Kommenden waren vergessen, weil die Wasserpflanzen alles verdeckten. Der reißende Schmerz in der linken Brustseite wurde dumpfer und ruhiger. Statt der Hitze kam Kälte. Die brennende Kerze in der Brust verwandelte sich manchmal in ein eisiges Messerchen, das irgendwo in der Lunge bohrte. Turbin schüttelte dann den Kopf, warf den Eisbeutel ab und rutschte tiefer unter die Decke. Der Schmerz in der Wunde kroch aus der mildernden Hülle heraus und quälte den Verwundeten so sehr, daß er unwillkürlich mit trockenen Lippen schwache Klageworte ausstieß. Als das Messerchen verschwand und wieder der brennenden Kerze Platz machte, durchdrang die Hitze seinen ganzen Körper, die Laken, die enge Höhle unter der Decke, und der Verwundete bat: »Trinken.« Aus dem Nebelschleier tauchten bald Jelenas, bald Nikolkas, bald Lariossiks Gesicht auf, lauschend zu ihm gebeugt. Ihrer aller Augen waren einander schrecklich ähnlich – finster und böse. Nikolkas Zeiger zogen sich zusammen und zeigten wie bei Jelena auf halb sechs. Nikolka lief dauernd ins Eßzimmer – das Licht brannte an diesem Abend trüb und flackernd – und sah auf die Uhr. Tonk-kr … tonk-kr …, ging böse und warnend das heisere Uhrwerk, und die Zeiger zeigten bald neun, bald neun Uhr fünfzehn, bald neun Uhr dreißig.
    »Ach Gott, ach Gott«, seufzte Nikolka und lief wie eine schlaftrunkene Fliege vom Eßzimmer durch die Diele an Turbins Schlafzimmer vorbei ins Arbeitszimmer, zog den weißen Vorhang zurück und sah durch die Balkontür auf die Straße. Hoffentlich fürchtet sich der Arzt nicht zu kommen, dachte er. Die steile, gewundene Straße war leerer als all die Tage, aber doch nicht furchterregend leer. Manchmal fuhren knarrend Droschkenschlitten vorbei, doch nur selten. Nikolka dachte, daß er wahrscheinlich gehen mußte, und überlegte, wie er es Jelena beibringen sollte.
    »Wenn er bis halb elf nicht kommt, gehe ich selbst mit Illarion Larionowitsch, und du bleibst bei Aljoscha. Keine Widerrede. Begreif doch, du hast

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