Die weiße Hexe
sie das schnell herausgleitende Baby auf und legte es - nachdem sie es so lange an Armen und Beinen gezogen und in der Luft herumgewirbelt hatte, bis es schrie -, in ein neues Baumwolltuch gewickelt, auf den Boden. Atemlos hatte ich zugesehen und den empfindlichen Kopf des Neugeborenen beobachtet, der bei dieser Prozedur gefährlich hin und her wackelte.
„Das macht unsere Babys stark. Ihr verwöhnt eure Kinder zu sehr.
So können wir später schwere Lasten auf dem Kopf tragen“, sagte die Hebamme und lachte über meine Bedenken.
Erst nachdem die Nabelschnur zu pulsieren aufgehört hatte, band sie sie mit einem Bindfaden zweifach ab, holte eine mitgebrachte Rasierklinge aus der Tasche und trennte sie durch. Anschließend legte sie das Baby in meine Arme. Während ich den lauthals schreienden Nachwuchs gerührt im Arm wiegte, wartete die schweißüberströmte Rhoda auf die Nachgeburt. An der verbleibenden Nabelschnur zog die Hebamme die Plazenta ins Freie, um sie in eine dafür bereitstehende Metallschüssel zu legen.
Sie deckte die Schale mit einem bunten Batiktuch zu, nachdem sie pulverisierte Elefantenhaut auf die Nachgeburt gestreut und folgende Beschwörungsformel gemurmelt hatte: „Alle alten Hexen und alle, die wissen, daß sie gekommen sind, um Böses zu tun, sollen gehen.“
Der Elefant symbolisiert Stärke wie kaum ein anderes Tier und soll das Baby vor Neiderinnen schützen, erklärte mir die Hebamme.
Dann schob sie die Schüssel unter die Matratze des Bettes. Sie schüttete heißes Wasser in eine weitere neue Blechschüssel und löste darin einen Absud aus Heilpflanzen und Kräutern auf. Dann nahm sie mir das ruhig schlafende, nackte Baby ab, um es mit bereitgestellter Erde einzureiben. Das sollte dem Neugeborenen helfen, mit dem neuen Lebensraum vertraut zu werden.
Anschließend badete die Hebamme das Baby viermal in der Schüssel mit dem Kräuterwasser, entsprechend der geschlechtsbezogenen Zahlensymbolik - Knaben werden nur dreimal gewaschen.
Mit der rechten Hand flößte sie dem jetzt schreienden Kind das gleiche Wasser, in dem es gebadet worden war, in Mund und Nase.
Mit einem kleinen Klistierball machte sie außerdem einen traditionellen Einlauf, um das Kindspech - den ersten Stuhl des Neugeborenen - zu entfernen. Anschließend spuckte sie dem Baby auf Rücken und Bauch, massierte es sehr lange mit einer öligen Lotion, die angenehm intensiv nach Kräutern duftete. Besondere Beachtung schenkte sie dem durch die Geburt länglich gezogenen Kopf des Kindes.
Rhoda hatte sich in der Zwischenzeit mit fast kochendem Wasser, das auf der Herdplatte im Zimmer vorbereitet worden war, gewaschen. Ihre Brüste massierte sie mit Karitebutter und strich die Vbrmilch mit Heißwasser aus. „Heißes Wasser tut weh, macht aber stark. Man bekommt eine schöne Haut, und die Müdigkeit verfliegt.
Heiße Waschungen, vierzig Tage nach der Geburt zweimal täglich durchgeführt, helfen der Frau,jung zu bleiben und das Blut abfließen zu lassen. Auch gut gewürzte Suppe, Pflanzenabsude und heiße Bauchwickel helfen, damit Hitze und Kälte im Körper ausgeglichen werden“, erklärte die Hebamme.
Rhoda mußte die vorbereitete Sauce mit Pottasche essen und heißes Wasser trinken, um den Milchfluß anzuregen. Die Hebamme schärfte ihr ein, die nächsten vierzig Tage auf Fleisch zu verzichten.
Endlich durfte sie sich hinlegen. Aber nicht etwa auf das weiche Bett. Diese erstaunliche Frau entrollte ihre Schilfmatte auf dem Boden und legte sich darauf. Das war ihr Nachtlager. Als Decke genügte ihr ein weiteres blau-weißes Batikbaumwolltuch. Die dicke Hebamme legte sich daneben. Das Baby bettete sie an Rhodas Busen. Wie in den Nächten zuvor durfte ich das verwaiste Bett benutzen.
Während ich auf den erschöpften Atem Rhodas lauschte, unter den sich das wohlige Schmatzen des Neugeborenen und das Schnarchen der Hebamme mischte, lag ich noch lange wach. Ich war so aufgedreht, als ob ich selbst das Baby zur Welt gebracht hätte.
Moses' sechstes Kind war wieder ein Mädchen. Hatte dieser Mann nicht seine Frau Efe verlassen, weil sie ihm nur Mädchen gebar?
War aus dem Wunsch nach einem männlichen Erben nicht Moses'
Elend erst entstanden?
Einen knappen Monat später bekam auch Efe ihr Baby. Und zwar den ersehnten Jungen.
Am Nachmittag des folgenden Tages kehrten John und Moses aus Ibadan zurück. Fragen, ob die Reise erfolgreich war, erübrigten sich. Moses' Zeit auf Erden lief zweifellos ab. Ich weiß nicht, ob
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