Die weissen Feuer von Hongkong
Dann löste er die Gurte und anwortete heiser: »Ich möchte die ganze Welt ankotzen. Einschließlich der Fluggesellschaft CAT und der gesamten US Air Force und Pop Chennault und den Herrn Präsidenten und mich selber.«
Conolly kannte diese Stimmungen bei dem Deutschen. Er riet ihm lakonisch: »In Ordnung. Geh und erledige es hinten. Und dann spül dir den Mund aus und löse mich ab. Ich habe eine ganze Nacht Schlaf nachzuholen, bis wir in Sungshan sind.«
Brooks winkte Kolberg augenzwinkernd zu, als dieser sich an der Funkerbude durch das Schott zwängte. Er griff nach einem in Wachspapier gehüllten Verpflegungspaket und hielt es dem Piloten hin. »Kaffee ist bei Mazzoli. Japanische Westküste hat einen Taifun. Den ersten in diesem Jahr. Bei einer Schießerei in Las Vegas sind drei Polizisten getötet worden. Heuschreckenplage in Afghanistan. Kommunisten in Korea im Vormarsch. Frank Sinatra läßt sich scheiden. Erdbeben in Peru. Autorennen in Indianapolis dieses Jahr ohne Todesopfer. Kaiserin Soraya im Londoner Zoo von einem Affen geküßt worden. Möchtest du sonst noch was von den Neuigkeiten auf der Welt wissen?«
»Danke«, sagte Kolberg.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Du könntest mich erschießen. Ich selber habe nicht den Mut dazu.«
Eine Stunde später, etwa auf der Höhe von Hainan, setzte der äußere Steuerbordmotor endgültig aus. Es gelang dem Piloten nicht mehr, ihn wieder in Gang zu bringen. Er versuchte, den Flug mit drei Motoren fortzusetzen. Aber bald begann auch der innere Steuerbordmotor zu stottern. Die Drehzahl ging erheblich zurück.
»Aus«, sagte Kolberg. Mit den restlichen beiden Motoren war die schwere Maschine kaum noch manövrierfähig. Sie schleppte sich weiter, aber unter der geringsten Bö schlingerte sie bereits bedrohlich.
Fred Kolberg ließ sich die Wetterkarte geben. Er betrachtete sie eine Zeitlang mit gerunzelter Stirn, schüttelte den Kopf. »Aus«, sagte er noch einmal und nahm Kurs auf Hongkong. Kai Tak war der nächste Platz, auf dem er landen konnte. Er trug dem Funker auf, Chennault über die bevorstehende Notlandung zu informieren. Außerdem ließ er Brooks über den Turm in Kai Tak ein Telegramm abschicken. Es ging an eine Frau Luise Lauffer in Hongkong. Kolberg teilte ihr mit, daß er sie am Abend auf der Terrasse des Repulse-Bay-Hotels erwarten würde.
FRED KOLBERG:
Passagiere über das Meer fliegen ...
Er klappte den Atlas zu und schob ihn in die Schulmappe. Der Lehrer entließ die Jungen mit einem kurzen Gruß, und sie stoben davon. Er war Sommer.
Draußen fanden sich Grüppchen zusammen, die sich gemeinsam auf den Heimweg machten. Es gab Straßenbahnen in Erfurt, aber die Jungen benutzten sie nicht. Sie schlenderten lieber durch die Straßen. Irgendwo machten sie halt. Dann saßen sie auf dem Stahlgeländer am Rande einer Parkfläche wie Spatzen auf einem Draht. Der eine, der den größten Atlas von allen in seiner Mappe trug, hieß Fred Kolberg. Der Atlas war sein liebstes Buch. Immer wenn er Zeit hatte, blätterte er darin und versuchte, sich die fernen Länder vorzustellen, die Gebirge mit ihren schneebedeckten Gipfeln, die reißenden Ströme, das Meer. Es war weit von Erfurt bis ans Meer, Fred Kolberg hatte es noch nie gesehen. »Passagiere müßte man über das Meer fliegen«, sagte er vor sich hin. »Als Pilot.« Die anderen warfen Steinchen nach einem Mädchen, das ihnen eine Nase drehte.
»Wenn man Flieger ist, kann man überallhin kommen. Nach Rio und London, nach Tokio und zur Südsee. «
»Haben sie dort überhaupt einen Flugplatz?« erkundigte sich einer mißtrauisch. Aber Fred Kolberg tat das mit einer geringschätzigen Handbewegung ab. »Ist doch egal. Jedenfalls kommt man überallhin. Könnt ihr euch vorstellen, zeitlebens hier in Erfurt zu hocken?«
Sie konnten es nicht. Das Fernweh steckte in jedem von ihnen, die Sehnsucht nach der Weite jenseits der großen Meere, nach dem Abenteuer, den zehntausend Gefahren der Fremde. Wenn sie lasen, dann waren es Bücher, die diese Sehnsucht je nach Veranlagung stillten oder verstärkten.
»Jeder Mensch müßte das Recht haben, die ganze Welt zu sehen«, forderte einer. »Wozu gibt es sie sonst überhaupt? Auf dem Globus ist Erfurt bloß ein Fliegendreck. Eine Schande, daß man in so was sein Leben verbringen muß.«
Fred Kolberg wußte nicht, was er mit dem Nachmittag anfangen sollte. Der Vater steppte Schuhe bei Lingel. Die Mutter lag seit Monaten im
Weitere Kostenlose Bücher