Die Weiterbildungsluege
Probanden sich dieser Meinung anschlossen, weil sie plötzlich ihrem eigenen Blick nicht mehr trauten
und ehrlich glaubten zu irren, und oder weil sie Angst hatten, mit ihrer Ansicht für dumm gehalten und ausgegrenzt zu werden.
Zurück ins Glied: »Bald ist er wieder normal!«
Das Verhalten von Menschen in Gruppen ist mit dem von Lemmingen vergleichbar. Sie haben sicher auch schon von diesem Phänomen
gehört, dass sich die possierlichen Nager nach einer Massenwanderung einem kollektiven Selbstmord hingeben. Der erste springt
von der Klippe ins Meer, der nächste folgt und je mehr sich dem anschließen, desto größer wird der Sog für die noch Lebenden,
es ihrer Sippe gleichzutun. So viele können schließlich nicht irren. Es stellt sich niemand hin und brüllt: »H-a-a-a-l-t!
Stop! Ihr irrt euch! Da geht es in den Tod!« Warum auch? Es würde ja keiner hinhören. Binnen weniger Sekunden wäre der Aufrührer
platter als ein Fußabtreter. Also kann er auch gleich in den Tod springen. Läuft auf das Gleiche hinaus.
Menschen müssen zwar nicht den Tod fürchten, wenn sie sich gegen tradierte Normen in der Gruppe verhalten, aber Konsequenzen
gibt es auch. In dem Moment, wo sich jemand anders verhält als gewohnt, reagieren andere Menschen mindestens mit Irritation
oder sogar starken Abwehrmustern. Sie können das gern selbst in einem kleinen, völlig ungefährlichen Experiment untersuchen.
Gehen Sie mal mit drei Leuten für drei Tage in ein Hotel. Seien Sie als Erster am Frühstückstisch. Wählen Sie einen schönen
Platz, zum Beispiel hinter einer Säule oder am Fenster, aus. Setzen Sie sich ans Kopfende. Die anderen folgen und drappieren
sich um Sie herum. Am nächsten Tag das gleiche Ritual. Derselbe Tisch, |170| die gleiche Sitzordnung. Meistens auch die gleiche Speise, wie zum Beispiel bei einem Teammitglied, mit dem ich kürzlich zusammenarbeitete.
Jeden Morgen vier Nürnberger Würstchen mit Rührei und einem Brötchen. Und dann machen Sie es anders. Am dritten Tag. Seien
Sie wieder als Erster da und setzten Sie sich an einen anderen Tisch. Der Rest der Gruppe wird orientierungslos durch den
Frühstücksraum irren. Erfahrungsgemäß verweilt die Truppe erst mal ungläubig vor dem Tisch, an dem man sonst saß. Dann überraschte
Äußerungen über den Tischwechsel. Wenn Sie jetzt noch etwas anderes essen – also statt Nürnberger Würstchen mit Rührei zum
Beispiel eine gehäufte Portion frisches Obst mit Jogurt –, dann ist der Tag gelaufen.
Wie das kleine Experiment zeigt, werden Normen von den dominanten Mitgliedern einer Gruppe geprägt. Das kann der offizielle
Leiter oder auch der sogenannte informelle Führer einer Gruppe sein. Und wenn erst mal bestimmte Regeln etabliert sind, dann
hält sich diese Art des Miteinanders lange Zeit. Kommen neue Mitglieder in die Gruppe, üben die bereits vorhandenen sozialen
Druck aus. Ich erinnere hier nur an die »Kuchen-Norm«: Auf diese Weise passiert es, dass Maßstäbe auch dann noch angelegt
werden, wenn deren Begründer schon lange nicht mehr in der Gruppe sind. Diese Gesetzmäßigkeiten wurden bereits Anfang der
1930er Jahre von dem türkischen Sozialpsychologen Muzafer Serif aufgezeigt. In seinem klassischen Experiment nutzte er den
autokinetischen Effekt. 59 Befindet sich eine Person in einem vollkommen abgedunkelten Raum und wird vor ihr auf eine Wand ein feststehender Lichtpunkt
projiziert, dann scheint sich dieser für die Person hin- und herzubewegen. Das ist aber eine reine Sinnestäuschung. Sherif
ließ die Probanden zunächst allein einschätzen, um welche Distanz sich der Lichtpunkt hin- und herbewegte. Jeder entwickelte
schnell eine individuelle Norm, die sich von denen der anderen Teilnehmer stark unterscheiden konnte. Als dann die Versuchspersonen
zu dritt die Lichtbewegung einschätzen sollten, pendelten sich alle drei Urteile auf einen gemeinsamen mittleren |171| Wert ein. Kurzum: Menschen in Gruppen bilden Normen aus. Normen beschreiben das, was für eine Gruppe
normal
ist. Und wenn Sie an Kapitel 3 zurückdenken, dann ist es für den einzelnen Menschen schon schwer genug, sich aus den gewohnten
Bahnen herauszubewegen. In der Dynamik einer Gruppe ist dieses Unterfangen noch um ein Vielfaches schwieriger. Denn auch sie
braucht Stabilität und Sicherheit. Alle Abweichungen von der Norm sind eine Gefährdung für die Ordnung. Folglich stehen Normen
Weiterbildungseffekten im Weg. Ein
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