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Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mit der Stadt sterben? Konnte er überhaupt sterben? Immerhin, die Weberinnen hatten gesagt, viele der alten Götter seien tot. Aber Urvater war der Erste, der Ursprung von allem. Für ihn mochten andere Gesetze gelten. Oder gar keine.
    »Jolly.« Munks Flüstern riss sie aus ihren Grübeleien. »Da vorn. Siehst du das?«
    Langsam nickte sie, aber die Worte brachte sie nur mühsam über die Lippen: »Du hattest Recht.«
    »Ich hab’s dir doch gesagt.«
    Vor ihnen auf dem Weg, auf dem Bett aus grauem Sand am Boden der Schneise, stand ein Mädchen. Keine zehn Schritt entfernt. Ihr Haar bewegte sich nicht, trotz der Strömungen; stattdessen fiel es glatt über ihre Schultern und schmiegte sich an den Rücken bis hinab zu ihren Hüften.
    »Ich bin Aina«, sagte sie. »Willkommen an der Schwelle zum Schorfenschrund«
    »Wer bist du?«, fragte Jolly, nachdem sie sich dem Mädchen bis auf zwei Mannslängen genähert hatten. Aina sah aus wie eine Insulanerin. Im Sonnenschein hätte ihr Körper einen herrlichen, hellbraunen Teint besessen; hier unten aber war er dunkelgrau wie verbranntes Holz. Doch nicht einmal das konnte davon ablenken, wie schön sie war.
    Ohne Zweifel war dies auch Munk aufgefallen, denn er starrte Aina an, als hätte er noch nie zuvor im Leben ein Wesen wie sie zu Gesicht bekommen. Auch Jolly war hübsch, aber sie gestand sich ohne jede Bitterkeit ein, dass niemand, den sie kannte, es an Schönheit mit Aina aufnehmen konnte. Ihr Körperbau war zart, fast verletzlich. Ihre Augen waren groß und dunkel, fast schwarz, so als füllte die Pupille ihre gesamte Iris aus. Sie hatte eine kleine spitze Nase, die sie von anderen Insulanern unterschied. Wie Jolly und Munk blieb auch sie von der eisigen Kälte der Tiefsee unberührt, denn sie trug keine Kleidung. Aber sie schien sich deswegen nicht zu schämen.
    »Munk!«, sagte Jolly.
    Ein wenig verdattert löste er seinen Blick von dem fremden Mädchen. »Äh… ja?«
    »Starr sie nicht so an.«
    »Tu ich gar nicht.«
    Jolly hatte noch immer keine Antwort auf ihre Frage bekommen, daher versuchte sie es erneut: »Wer bist du? Was tust du hier unten?«
    »Ich habe mich vor euch versteckt.« Aina sprach ihre Sprache, besser, als Jolly es je bei irgendeinem Eingeborenen der Inseln gehört hatte.
    »Warum?«, fragte Munk, nun ein wenig gefasster.
    »Ich war nicht sicher, was ihr seid. Wer ihr seid. Es gibt noch andere hier unten, keine Menschen.«
    »Klabauter?«
    Einen Moment sah das Mädchen sie verständnislos an. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »So nennt ihr sie, nicht wahr? Wir haben früher Krallenmänner gesagt.«
    »Sind sie hier?«, fragte Jolly vorsichtig, aber nicht übermäßig alarmiert. Sie hatte die umliegenden Spalten und Höhlen die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen und keinerlei Hinweis auf einen Hinterhalt entdeckt.
    »Viele sind fortgegangen«, sagte Aina mit sanftem Kopfschütteln. »Der Mahlstrom hat sie weggeschickt.«
    Nach Aelenium, dachte Jolly ohne echte Erleichterung. Ob die Schlacht schon begonnen hatte? Oder gar entschieden war?
    »Wie lange bist du schon hier unten?«, fragte Munk.
    »Und wer hat dich geschickt?«
    Jolly glaubte, einen leichten Unterton von Eifersucht in seiner Stimme zu hören. Machte er sich Sorgen, dass Urvater heimlich noch andere Quappen entsandt haben könnte? Fühlte er sich dadurch… ja, was eigentlich? Übergangen? Nicht mehr so wichtig wie zuvor?
    »Wir sind vor langer Zeit hier herabgekommen«, sagte Aina. »Vor unfassbar langer Zeit.«
    »Wir?«, hakte Jolly nach.
    »Ich und die anderen, die so sind wie ihr.«
    »Noch mehr Quappen?«
    »Wenn das euer Wort für uns ist, ja.«
    Das Ganze wurde immer rätselhafter. Und dann plötzlich dämmerte es Jolly. »Du bist eine der Quappen von damals?«
    Munk schenkte ihr einen verwunderten, dann zunehmend finsteren Seitenblick. »Das ist unmöglich«, flüsterte er ihr verbissen zu.
    »Ach ja?«, gab sie ebenso gepresst zurück.
    »Von damals«, wiederholte Aina wehmütig, und ihr Blick richtete sich in Fernen, die sich Jolly nicht einmal vorzustellen wagte. »Es ist so lange her.«
    Wie weit mochte es zurückliegen, dass der Mahlstrom zum ersten Mal besiegt und im Schorfenschrund eingekerkert worden war? Es war immer nur die Rede von Jahrtausenden gewesen. Nicht einmal Urvater oder Graf Aristoteles hatten den Zeitpunkt des ersten Krieges mit den Mächten des Mare Tenebrosum näher bestimmt, so unfassbar weit lag er zurück.
    Aber Aina sah aus,

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