Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
gewöhnte.
Walkers Gesicht erschien vor ihr in der Dunkelheit, halb Erinnerung, halb Wunschdenken, und der Gedanke an ihn gab ihr weitere Kraft. Sie musste es schaffen.
Hinter ihr, unten im Schacht, explodierte die Wasseroberfläche.
Sie warf sich mit dem Rücken gegen die Wand, sah eine Wasserfontäne emporschießen, war aber nicht nah genug am Abgrund, um erkennen zu können, was dort unten aufgetaucht war. Starr vor Schreck, hörte sie es im Wasser toben. Wellen klatschten gegen die Wände, und irgendetwas ließ die Stufen unter ihren Füßen erzittern.
Lange stand sie da und rührte sich nicht, Rücken und Handflächen gegen die Korallenwand gepresst. Sie versuchte, ihren Atem so ruhig wie möglich zu halten, aber je stärker sie sich darauf konzentrierte, desto kurzatmiger wurde sie. Sie besaß keine Waffe mehr und würde dem Wesen mit bloßen Händen entgegentreten müssen, falls es sich entschied, ihr die Treppe hinaufzufolgen.
Die Panik war unvermittelt da, nicht nur Furcht, sondern echtes Entsetzen, das ihr die Luft abschnürte. Jetzt schämte sie sich nicht mehr dafür. Sie hatte in den letzten Stunden zu viel durchgemacht, um jetzt noch die stolze, furchtlose Piratenprinzessin herauszukehren. Es war an der Zeit, zu ihrer Angst zu stehen. Und mit diesem Gedanken gab sie ihrer Neugier nach und machte einen Schritt nach vorn, zur Kante der geländerlosen Treppe.
Das Wasser hatte sich beruhigt. Doch das bedeutete nicht, dass es leer war.
Die Kreatur hatte aufgehört, sich in der Enge der Korallenröhre hin und her zu werfen. Stattdessen stand sie aufrecht wie ein lebender Turm in der Mitte des Schachtes und reckte ihren Reptilienleib in die Höhe, vollkommen reglos, mit beinahe hypnotischer Ruhe. Wasser perlte auf ihren schwarzen Schuppen und troff in die Tiefe. So still stand sie, dass Soledad sie erst beim zweiten Hinsehen als das erkannte, was sie tatsächlich war: eine nachtschwarze Seeschlange, so breit wie der Stamm eines Urwaldbaums, mit einem dreieckigen Schädel, fast so groß wie Soledad selbst.
Blitzartig zuckte die Schlange eine weitere Mannslänge empor. Ehe Soledad sich versah, befanden sich die Augen des Wesens auf einer Höhe mit ihren eigenen.
Und was für Augen das waren!
Geschlitzte Schlangenaugen, größer als ein menschlicher Schädel und von der Farbe makellosen Bernsteins, so klar wie goldfarbenes Glas und tief genug, um sich innerhalb von Sekunden darin zu verlieren.
Soledad fehlte die Kraft, sich zu rühren. Bewegungslos blieb sie stehen, wich auch nicht zurück zur Wand. Das Schlangenmaul würde sie in jedem Winkel dieses Schachtes erreichen. Es hatte keinen Zweck davonzulaufen.
Aber noch machte die Kreatur keine Anstalten, sie zu verschlingen. Soledads Brustkorb hob und senkte sich, ihr Atem hallte von den feuchten Wänden wider. Stumm und unbewegt blickten sie einander in die Augen, Prinzessin und Schlange - und irgendwann in diesen Momenten, die sich ins Endlose dehnten, begriff Soledad. Sie las es in diesem bernsteinfarbenen Blick, in der Klarheit dieser Augen, in den Tiefen dieser mächtigen Intelligenz.
Die Schlange hatte sie gerettet. Aber sie hatte es nicht uneigennützig getan. Die Unterstadt war ihr Reich, ihr Revier, und falls die Klabauter siegten und Aelenium unterging, wurde damit auch ihr Lebensraum zerstört. Sie hatte Soledad nicht aus Nächstenliebe aus dem Wasser gezogen, natürlich nicht; ein solcher Begriff hatte keinen Platz in diesem uralten Verstand. Sie hatte es getan, um die Stadt zu stärken und den Klabautern zu schaden. Nur aus diesem einen Grund.
Soledad verharrte noch einige Atemzüge länger, dann beugte sie langsam das Haupt und verneigte sich. »Ich danke dir«, sagte sie, ungewiss, ob die Schlange die Worte verstand. Und dann fügte sie rasch noch etwas hinzu, bevor sie überlegen konnte, ob es womöglich ungebührlich, gar lästerlich wäre.
»Falls du uns wirklich helfen willst, dann beschütze die Ankerkette.«
Mit mühsam erzwungener Ruhe wandte sie sich um und setzte ihren Aufstieg fort. Schweigend streckte sich dabei der Leib der Schlange neben ihr empor, vollkommen lautlos, blieb noch zwei Treppenumrundungen auf einer Höhe mit ihr. Dann verschwand sie auf einen Schlag, so schnell und still, dass Soledad es erst einen Schritt später gewahr wurde. In der Tiefe ertönte ein tosendes Klatschen, dann war nur noch das Plätschern zu hören, mit dem das aufgewühlte Wasser gegen die Wände schlug.
Die Schlange war fort.
Soledad
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