Die Welt auf dem Kopf
verneinte. Hinterher sagten sie enttäuscht zu mir, dann hätte ich ebenso gut einen Sarden nehmen können. Aber ich war verliebt, und da sie wussten, dass ich ein Dickkopf war, fanden sie sich damit ab. Wenn er seine Familie in Amerika besuchte, begleitete ich ihn fast nie. Sie wohnte an einem Ort, der mit dem wirklichen Amerika so gut wie nichts zu tun hatte, in einer gottverlassenen Gegend, wo es nur vier Farmen gab und es nach Kuhmist stank. In der Zwischensaison wohnten wir in Paris, und Paris war wirklich Paris. Aber nicht von Anfang an. Er war zunächst allein dorthin gezogen. Und du hättest die Wohnung sehen sollen, die er sich ausgesucht hatte, eine ehemalige Remise für Pferde und Kutschen, die in eine Pförtnerwohnung umgebaut worden war, in einem Altbau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Levi besitzt nicht gern, er begeistert sich nur für Dinge, die andere, ohne zu zögern, wegschmeißen würden. Schon immer fuhr er schrottreife Autos, du kennst ja sein jetziges, so wie er sich auch immer abgenutzte Möbel aussucht. Als ich dann zu ihm nach Paris zog, fand ich mich in diesem dunklen, feuchten Loch wieder und blickte sehnsüchtig auf die prächtige Eingangshalle des palastartigen Gebäudes, mit ihren Wandspiegeln und der Schiefertreppe, die von einem kunstvollen Geländer mit Weinrankenmuster gesäumt war und sich majestätisch nach oben schwang und sich dabei verjüngte. Und wir? Wir wohnten in einer Wohnung im Erdgeschoss. So wie er mir am Telefon den ehemaligen Stall beschrieben hatte, hörte es sich an wie das Paradies. Im ersten Arrondissement . Die Tuilerien und der Louvre in unmittelbarer Nähe. Gewiss, und dennoch war und blieb es ein ehemaliger Stall. Und ich kann dir nicht sagen, wie viele Diskussionen und Überredungskünste es brauchte, um ihn zu überzeugen, den ehemaligen Stall gegen eine Wohnung im dritten Stock, in luftiger Höhe, zu tauschen. Aber er hatte Heimweh, und jedes Mal, wenn wir durch die Eingangstür traten und an der Pförtnerwohnung vorbeikamen, versäumte er es kein einziges Mal zu bemerken, dass wir es dort im Grunde viel besser hatten.
Die Sache ist die: Mein Mann und mein Sohn haben ein heiteres Gemüt und sind mit wenig zufrieden. Deine Freundin, die Signora von unten, muss von gleichem Wesen sein, auch sie von einem anderen Stern. Ich frage mich, falls sie tatsächlich, was ich nicht glaube, seine Geliebte ist, wie sie sich nur in derartige Lebensumstände verstricken konnten. Ich beneide sie jedenfalls nicht. Aber ich will dich nicht weiter stören und auch nicht schlecht über deine Anna reden, zumal ich nicht weiß, ob sie tatsächlich die Geliebte meines Mannes ist.«
Sie erhob sich vom Sofa, und ich begleitete sie zur Tür, wo sie mich umarmte und erneut zu weinen begann und sich die Nase mit dem Ärmel ihres Morgenrocks abwischte.
Von Johnson junior wusste ich, dass sie, als sie nach Hause zurückgekehrt war, nicht geklingelt, sondern mit ihrem eigenen Schlüssel die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und dann durch sämtliche Zimmer gegangen war. Grußlosstolzierte sie an ihrem Mann, ihrem Sohn und der Haushälterin vorbei, als gehörten sie zum Mobiliar. Giovannino dagegen kannte sie noch nicht und sah ihn lange unbewegt aus ihren dunklen Augen an. Dann hob sie mit gefalteten Händen den Blick gegen die Zimmerdecke, als schickte sie mit verächtlicher Miene ein Stoßgebet zum Himmel, begab sich auf ihr Zimmer und schloss hinter sich ab.
Ich fragte ihn, was seine Mutter gemeint hatte, als sie sagte, er handle wider die Natur.
Er antwortete, dass einem manchmal Dinge widerfahren, die einem das Herz erfüllen, und man nichts dagegen tun könne. Obwohl ich nicht verstand, was er meinte, habe ich Angst, dass sich am Ende jemand der Beteiligten das Leben nimmt, zum Beispiel die Signora von oben. Ich habe Angst, dass sie wieder anfängt, Schlaftabletten zu horten. Seit sich mein Vater umgebracht hat, habe ich unentwegt Angst, dass sich noch mehr traurige Menschen aus meiner Umgebung das Leben nehmen. Es reicht, wenn jemand, von dem ich weiß, dass er traurig ist, und der um Rückruf gebeten hat, nicht abnimmt, wenn ich ihn anrufe, und schon sehe ich dessen Füße in einem Paar frisch polierter Schuhe in der Luft hängen. Und als Nächstes habe ich dann das Bild mit den leeren Schuhen vor Augen. Für mich ist der Tod ein Paar leerer Schuhe.
Eines Nachts hielt ich es nicht mehr aus und klopfte an Annas Tür.
»Ich fürchte mich so vor dem Tod«, sagte ich zu
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