Die Welt der Kelten
Reichtümer beschert hatte. Warum sollte man dort nicht |47| neue Wohnsitze finden, die in einer wärmeren Welt des Überflusses lagen? Überlieferte Stammesnamen vermitteln ein Bild wandernder
und Land suchender Menschen. So bedeutet die Bezeichnung der um das südwestfranzösische Toulouse siedelnden Tektosagen »die
Dachsuchenden«, und der Name der Allobroger in der Nähe des Genfer Sees bezeichnet sie als Menschen, die an einem anderen
Ort geboren wurden, also eingewandert waren. Warum keltische Stämme oder Stammesgruppen die bisherigen Wohnsitze verließen,
ist unbekannt. Eine Fülle von Gründen kommt in Betracht: politische Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Parteien, Aufstände
gegen die herrschenden Fürsten, eine gewachsene Bevölkerungszahl, die sich auf ihrem ursprünglichen Land nicht mehr ernähren
konnte, und natürlich die Lockungen des Südens.
Der römische Historiker Livius hat sich Jahrhunderte später mit dem Beginn der Keltenzüge beschäftigt und folgende Geschichte
dazu tradiert. Danach machten die Biturigen um das heutige Bordeaux den Anfang mit den keltischen Stammeswanderungen. Sie
hätten zu Zeiten des römischen Königs Tarquinius Priscus den dritten Teil Galliens beherrscht und landesweit die größte Macht
besessen. Darum stellten sie ihren König über alle Kelten Galliens: »Das war damals Ambicatus, ein überaus mächtiger Mann
durch seine Tüchtigkeit und weil das Glück ihm und vor allem auch seinem Volk hold war; denn unter seiner Herrschaft war Gallien
so reich an Früchten und Menschen, dass es schien, als könne die übergroße Menge kaum noch regiert werden. Weil er das Königreich
von der drückenden Überbevölkerung zu entlasten wünschte, selbst aber schon hoch an Jahren war, erklärte er, er werde Bellovesus
und Segovesus, die Söhne seiner Schwester, tatkräftige junge Männer, zu den Wohnsitzen schicken, die die Götter ihnen durch
ihre Zeichen geben würden. Sie sollten so viele Leute aufbieten, wie sie selbst wollten, damit keine Völkerschaft die Ankommenden
abwehren könne. Darauf erhielt Segovesus durch die Lose die Herkynischen Wälder, die sich vom Schwarzwald bis zu den Karpaten
erstreckten; dem Bellovesus gaben die Götter den viel erfreulicheren Weg nach Italien. Der bot auf, was seine Völker an Überzahl
hatten, Biturigen, Arverner, Senonen, Haeduer, Ambarrer, Karnuten und Aulerker und machte sich mit ungeheuren Truppenmassen
an Fußsoldaten und Reitern auf den Weg …«
Obwohl der römische Geschichtsschreiber kein Zeitzeuge war und sagenhafte Motive bei seiner Schilderung verwendete, bietet
er ein glaubwürdiges Bild vom Beginn einer Wanderung: Die adligen Stammesführer mit ihren kampfbereiten Kriegern entschieden
über den Aufbruch und riefen dazu die Götter an. In vielen Fürstensitzen wurde darüber debattiert, wer mit welchem Stammesteil
losziehen sollte, um für sich neues Land und Beute zu gewinnen. Natürlich kamen nur die Jüngeren infrage, |48| deren Ehrgeiz darauf brannte, Ruhm und Reichtum zu erwerben. Wie die Brüder Segovesus und Bellovesus zogen viele Kelten los,
in menschenreichen Zügen mit ihren Kriegern und den Frauen und Kindern.
Derartige Wanderungen hat es in der Welt der Kelten immer wieder gegeben; aber darüber ist nichts bekannt. Erst als sich Kriegerscharen
und Auswanderertrecks den Ländern am Mittelmeer näherten und in diese einfielen, wurden sie für die griechischen und römischen
Historiker ein Thema. Über zwei Jahrhunderte machten keltische Krieger die Reiche und Städte des Südens unsicher. Ihre Menschenscharen
zogen nach Italien, auf den Balkan bis nach Griechenland und überquerten schließlich sogar den Bosporus, um im anatolischen
Hochland eine neue Heimat zu finden. Im 3. Jahrhundert vor Chr. stellten die keltischen Stämme die verbreitetste Kultur Europas.
Sie reichte weit über das Gebiet der hallstattzeitlichen Fürsten hinaus: von Irland und den gesamten Britischen Inseln bis
nach Oberitalien, von Spanien über Mitteleuropa und den Balkan bis nach Kleinasien. Einen Hinweis auf die Wanderfreudigkeit
der Kelten gibt die Tatsache, dass dieselben Stammesnamen in weit voneinander entfernten Gegenden zu finden sind.
Unter den Griechen und Römern, deren Schriftsteller die einzigen schriftlichen Quellen dieser Zeit lieferten, vollzog sich
ein grundlegender Wandel des Bildes von den nördlichen Wilden: Nun wurden die Kelten zu den typischen
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