Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
wenn sie nach einem üppigen Mahl wieder einmal nachbestellen, würde ihnen sagen: »Muss das sein? Reicht nicht ein Burger-Menü? Weißt du überhaupt, wie viel Treibhausgase dein Burger verursacht, bevor er zum Fleischklops wird?« Kein Wort müsste ich sagen: Mein deutscher Blick drückt es unausgesprochen aus. Damit würde ich ihnen unweigerlich den Appetit verderben – was für einen US -Amerikaner einer Todsünde gleichkommt. Nur vergleichbar mit dem Versuch, dem Ami die Schusswaffen wegzunehmen oder ihn zu zwingen, krankenversichert zu sein.
Ich kenne diesen deutschen Besorgnisblick, meine Frau guckt auch so. Auf jeden Fall immer, wenn ich esse, wie es mir in New Jersey beigebracht wurde. Als gelernte Ostdeutsche beherrscht sie (Achtung: Vorurteil!) den leicht depressiven Vorwurfsblick sogar noch ein wenig perfekter. Wenn sie mich nach dem Konsum des ersten Burgers und der Bestellung des zweiten mit ihrem BUND - FÜR - NATURSCHUTZ - BLICK anschaut, sage ich: »Schatz, ich will nur sichergehen, dass die Kuh wirklich tot ist und keine Treibhausgase mehr in die Luft pupst.«
Momentan darf ich das noch, also mehr essen als der Körper braucht. Noch bin ich ja ein Ami und damit irgendwie eingeschränkt zurechnungsfähig. Aber, wie gesagt, die amerikanische Seite verliert von Jahr zu Jahr an Einfluss, immer mehr bestimmt die deutsche Seite mein Leben. Und das ist gut so, denn es beschert mir einen Haufen neuer Freunde. Und dieser Erkenntnisgewinn begann in meinem Lieblingskaffeeladen. Ich saß vor einem XXL -Latte macchiato mit Vanille-Aroma und starrte auf ein leeres Blatt Papier. Eigentlich wollte ich einen witzigen Text schreiben, aber mein Nacken wollte nicht. Mein Nacken ist nicht lustig. Ihm reicht es, wenn er mich quälen kann. Und das kann mein Nacken gut.
Als ich dann anfing, meinen Nacken zu massieren, um ihn irgendwie zu besänftigen, und dabei ein seltsames Geräusch aus mir rausrutschte, ein Geräusch, das irgendwo zwischen orgastischem Höhepunkt und »Leck mich an ’ne Füße, tut das weh!« angesiedelt war, sprach mich mein Tischnachbar an: »Na, tut ganz schön weh, der Nacken, was?«
»Höllisch weh. Ich könnte schreien vor Schmerzen!«
»Kenn ich«, erwiderte mein Gegenüber mit Leidensmiene, »jeden Morgen der gleiche Mist. Krieg den Kopf gar nicht mehr gerade, so weh tut das!«
Und danach unterhielten wir uns eine halbe Stunde über die unterschiedlichsten Schmerzvarianten, die unsere gepeinigten Körper durchströmen. Es war wundervoll. Noch nie hatte mich jemand einfach so angesprochen, außer vielleicht, um zu fragen: »Hab Sie gestern beim Raab gesehen. Was kriegt man eigentlich für so ’nen Auftritt? Lohnt sich das überhaupt?« Aber ein Mensch, der mich einfach so ansprach? Mich, den Fremden, den Ami? Nein, das passiert mir erst, seitdem ich leide.
»Ich hab Rückenschmerzen!«
»Und mir tut die Hüfte wahnsinnig weh!«
»Okay, lassen Sie uns Beckenbodenübungen machen!«
So bin ich wirklich in Deutschland angekommen. Endlich. Meine Schmerzen, meine Leiden machen mich zum Gleichen unter Gleichen. Kein Wunder, lebe ich doch in einem Land, das freiwillig von einer Frau regiert wird, deren Mundfalten ein Symbol für schlechte Laune sind.
Früher, als ich jung war und schmerzfrei, dachte ich oft: So richtig freundlich sind die Deutschen nicht. Keiner redet mit mir. Ich sitze allein im Café und werde von niemandem angesprochen. Stundenlang. Nicht einmal der Kellner spricht mich an. Aber jetzt weiß ich: Das hat nichts mit Unfreundlichkeit zu tun. Nein, die Deutschen sind freundlich, ich hatte nur einfach nicht genug Schmerzen. Mein Gesicht war rund und rosig, keine Spur von Leidensmiene. Warum also soll mich jemand ansprechen, wenn ich mit leicht debilem und selbstzufriedenem Grinsen irgendwo rumlungere? Ja, so war ich: Debil, glücklich und – einsam. Jetzt ist alles anders: Ich bin kritisch, ich hinterfrage meinen Fleischklops, leide unter allen möglichen Arten von Schmerzen und habe Freunde. Und nicht alle sind Ärzte oder Physiotherapeuten.
Einer meiner neuen deutschen Freunde heißt Peter, ist 55 , Werksfahrer und Meister in Schulterschmerzen. Kaum treffen wir uns, schon geht’s los.
»Na, Peter, wie geht’s dir?
»Beschissen! Und dir?«
»Auch beschissen. Der Nacken. Na ja, der Rücken sowieso.«
»Hast du’s schon mal mit Akupunktur versucht?«
»Geht nicht. Nadelphobie.«
»Kenn ich. Hab ’ne Kathederphobie. Apropos Katheder: Brauchst du zufällig einen
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