Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Abendland.
Die päpstliche Autorität begründete sich nicht über Buchstabenfolgen, sondern in der Nachfolge von Petrus, dem Sprecher der
ersten Gemeinde. »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen«, soll Jesus zu ihm gesagt haben. Alle
Päpste sahen sich als dessen Amtsnachfolger. Das Studium der Heiligen Schrift überließen sie den Religionsphilosophen, den
Theologen.
Andererseits, ohne die päpstliche Schirmherrschaft wäre unser Europa so nicht entstanden. Wir wären vermutlich Hinterwäldler,
Barbaren geblieben. Seit dem Mittelalter, jener Periode in der europäischen Geschichte zwischen |154| dem 4. und dem 15. Jahrhundert, wurde die Kirche zur Hüterin unseres Wissens, unserer Bildung. In ihren Klöstern wurden die
Schriften der Wissenschaften und Künste aufbewahrt, dort wurden sie studiert und kopiert, sorgfältig abgeschrieben, reichhaltig
verziert und in schweren Kodizes gebunden. So sind die Werke der antiken Schriftsteller und Philosophen, der Mediziner, Astronomen
und Mathematiker in unsere Zeit gekommen und zur Grundlage unseres heutigen Denkens geworden. Ohne die kirchliche, ohne die
päpstliche Macht wäre das nicht möglich gewesen. Nur deshalb verzeihe ich der Papstkirche vieles. Nein, nicht die Kreuzzüge,
in denen sich die Christen des Abendlandes vom 11. bis zum 13. Jahrhundert anschickten, die heiligen Stätten Palästinas von
den islamischen Herrschern zurückzuerobern. Nicht die Scheiterhaufen für die Andersdenkenden, auf denen die Papstkirche lange
Zeit jeden verbrannte, der sich gegen ihre Lehre stellte. Nicht die Hexenprozesse, in denen bis ins 17. Jahrhundert hinein
zahllose Frauen zu einem grausamen Tod verurteilt wurden. Auch nicht die Verketzerung der Reformation.
Martin Luther, der Begründer der Reformation, ließ kein gutes Haar an der Papstkirche: »Gibt es eine Hölle, so steht Rom darauf«,
pflegte der ehemalige Mönch zu sagen. Die Reaktion der Kirche ließ nicht lange auf sich warten. Im Jahr 1518 übergab die Kurie,
Roms päpstliche Verwaltung, Luther, das »Wildschwein aus dem Walde«, als Gottesfeind und Ketzer offiziell dem Teufel.
Luther hatte in der Tat das Papsttum frontal angegriffen. Er diffamierte die Papst- und Priestermacht als »Babylonische Gefangenschaft«
der Christen: »Alles ist durch die Papstesel verdunkelt und unterdrückt!« Mit solchen Pauschalurteilen war er fix bei der
Hand, seit ihm noch als Mönch die Vision einer Kirche rein von Gottes Gnaden aufgegangen war. Diese war ihm in den Briefen
von Paulus begegnet. Dessen anarchische Frömmigkeit, gesetzes- und priesterfrei, blieb der Großkirche immer verdächtig. An
einem Glückstag entdeckte Martin Luther sie wieder, holte das Neue Testament »unter der Bank hervor« und konfrontierte die
Öffentlichkeit damit. Die Menschen rieben sich die Augen. Solche Ketzereien standen in der Bibel? Luther übersetzte das Neue
Testament, seinen Paulus, ins Deutsche, damit sich die Leute selbst ein Bild von der Sache machen konnten. Die Magd trug das
Büchlein im Busenband, der Professor setzte die Brille auf, und so verbreitete sich sein Protest gegen die Kirche in Windeseile
durch Europa. Der Stuhl des Papstes wankte. Die drei Worte »allein aus Gnade« wirkten wie ein Erdbeben.
Die »Freiheit vom Gesetz« trug Luther in seinen Predigten und Streitschriften unablässig vor, wenn nötig polternd, wütend,
starrköpfig bis zuletzt. Gegen die |155| »allein selig machende« Priesterkirche führte er den allein selig machenden Glauben ins Feld: »Glaubstu so hastu, glaubstu
nit, so hastu nit«, pflegte er zu sagen. Zum Glauben gelangt der Mensch durch spontane Erleuchtung, genau wie im Zen-Buddhismus.
»Wäre unser Glaube so gewiss und stark, wie er wohl sein sollte, so könnten wir vor großer Freude nicht leben.« Ohne Buddha
keine Erleuchtung, so haben wir erfahren. Hier heißt es: Ohne Christus kein Glaube. Christus ist Gottes Gesicht unter den
Menschen. »Ecclesia semper est reformanda.« Die Kirche muss ohne Unterlass verbessert, umgestaltet, ständig neu reformiert
werden. Das war das Motto der reformatorischen Bewegungen, die am 31. Oktober 1517 ihren Anfang nahmen, als Luther in Wittenberg
seine 95 Thesen anschlug. Die Kirche muss sich ständig ihres Ursprungs vergewissern: Jesus Christus. Denn die unglaubliche
Gnade ist immerzu in Gefahr, von Priestergläubigkeit und Kleinglauben eingeholt zu werden.
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