Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
damals alle geredet. Waren es nicht irgendwelche Jungs aus den Prospects?«
»Wird hier heute noch bedient oder wollt ihr Mädels bis Feierabend rumschnattern?«
Ein älterer Herr mit Schirmmütze, dicker Brille und auffälligem Hörgerät hält ein paar grün glänzende Satin-Boxershorts hoch. Hinter ihm stehen zwei weitere ungeduldige Einkäufer Schlange.
»Tut mir leid – wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen. Wir müssen zwanzig Jahre aufholen.«
»Ja, das konnten wir alle hören«, sagt eine forsche Frau in einem zu engen Bleistiftrock, die nach dem Mann an der Reihe ist. »Herzchen, mein Rat dazu ist, werd Lesbe, oder Nonne.«
»Oder beides«, sagt der alte Herr.
»Geben Sie mir die, mein Lieber«, Janey nimmt ihm die Boxershorts ab. »Wollen Sie sie kaufen oder umtauschen?«
»Raten Sie mal«, sagt er glucksend.
»Jetzt machen Sie schon«, zischt die Frau in dem engen Rock. »Manche von uns müssen arbeiten.«
»Ich komme bald wieder vorbei«, sagt Doro zu Janey. »Dann gehen wir einen Kaffee trinken.«
»Kann ich auch mitkommen?«, fragt der alte Herr.
»Werd erwachsen, Opa«, sagt die Frau.
»Was ist eigentlich aus June geworden?«, fragt Doro, als sie ihre Einkäufe einsammelt.
»Sie ist gestorben«, sagt Janey. »Und Carl, Megans Junge, auch. Hast du das nicht in der Zeitung gelesen?«
Serge
Morgenluft
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Er ist in einer Minute da.«
Noelline, kompetent und geschmeidig in einem Bleistiftrock und Schleifenbluse, geleitet Serge in Chickens Büro, das eine Ecke der obersten Etage einnimmt, mit riesigen gebogenen Fenstern nach Süden und Westen. Er sieht hinaus auf die weite Flussschleife, einen roten Bus, der über die London Bridge kriecht, die Kuppel von St. Paul’s und dahinter das unendliche Panorama eines dramatischen Himmels, wo die Wolken an den Spitzen anderer Geldtürme vorbeijagen, die noch größer als die FATCA sind.
Das Büro ist mit schwerem Mahagoni und maskulinem schwarzem Leder ausgestattet, im Stil eines gediegenen Herrenclubs. An der Wand hängen Stiche von Jagdszenen und ein ziemlich kitschiges goldgerahmtes Gemälde, ein Porträt – das muss Caroline sein, blondiert, geliftet und mit schwerem Schmuck behängt. Er erkennt sie von den Fotos, die er von Chickens Memory-Stick heruntergeladen hat, und ... irgendwo hat er sie doch schon mal gesehen? An den zwei fensterlosen Wänden stehen deckenhohe Bücherregale mit Reihen über Reihen identischer ledergebundener Bände: das Gesamtwerk von Charles Dickens, das Gesamtwerk von Sir Walter Scott, das Gesamtwerk von Anthony Trollope, das Gesamtwerk von Jeffrey Archer. Anscheinend hat Chicken intellektuelle Ambitionen.Auf dem Regal hinter dem Schreibtisch stehen vergoldete Golftrophäen und gerahmte Fotos. Da ist eins von Chicken mit dem Gant tragenden Golf-Apoll. Da sind Chickens Kinder William und Arabella, adrett und strahlend in ihrer Schuluniform – Arabella mit den Grübchen, William mit der Stupsnase und den Mandelaugen.
»Das ist Willy Wonka. Ein richtiger kleiner Racker.« Chicken kommt hinter Noelline herein, die ein Tablett mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen trägt. »Setz dich doch, Freebie.«
Chicken fläzt sich entspannt in seinen Sessel, den Rücken zum Fenster, die langen Beine unter dem Tisch ausgestreckt, und beobachtet ihn mit seinen Jagdhundaugen. Serge fühlt sich irgendwie nackt im hellen Licht, als könnte Chicken direkt in seine opportunistische, in Zegna gekleidete Hochstaplerseele blicken. Seine Hände sind feucht, glücklicherweise hatte Chicken kein Händeschütteln im Sinn. Serge riecht sein Aftershave – moschusartig, stechend, einschüchternd – es erinnert ihn an ... Er schließt die Augen und erinnert sich an die Szene im Garten am Morgen nach dem Kaninchenmassaker – der Geruch des Fuchses. In seinem Kopf laufen lebhafte Worst-Case-Szenarien ab: sie feuern ihn; sie rufen das Betrugsdezernat; er wird öffentlich vor dem Team gedemütigt, vor Maroushka.
»Meine Adoptivschwester ...«, er hört, wie seine eigene Stimme peinlich Vertrauen heischend über die Worte stolpert, »sie ist wie Willy ...«
Er versucht an ihre »gemeinsame Menschlichkeit« zu appellieren, wie Doro sagen würde. Aber ist Chicken menschlich?
»Down-Syndrom?« Chicken schnalzt mit der Zunge und verwandelt sich abrupt vom Dobermann in eine Glucke. »Die meisten Leute haben keine Ahnung von der Liebe – dem reinen Sonnenschein, den diese Kinder dir ins Leben bringen.
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