Die Widmung: Roman (German Edition)
beaufsichtigt und unterstützt werden. Daher entfloh Zee nur zu gerne für kurze Zeit mit Hawk in eine andere Welt.
Wenn Hawk die Droge ihrer Wahl war, dann war er ihr einziges Laster. Sie konnte nicht genug von ihm bekommen. Sie schien in zwei Welten zu leben. Ihre Tage waren von den Aufgaben der Pflege bestimmt, mit allem, was dazugehörte: bei Peapod Lebensmittel bestellen, Windeln und Körperlotion, damit Finch keine wunden Stellen bekam, einen weichen Waschlappen zum Baden, getrocknete Pflaumen gegen die Verstopfung, Oreo-Kekse zum Naschen. Wenn Finch herumwanderte, was er immer tat, sobald die Wirkung der Medikamente nachließ, folgte sie ihm und passte auf, dass er mit seinen unsicheren Schritten nicht stürzte.
Sie brachte ihn nicht dazu, den Handlauf zu benutzen, den Hawk angefertigt hatte. Nicht, dass er sich geweigert hätte, er schien vielmehr nicht zu wissen, wie das ging, oder er war außerstande, seine Hand die Stange greifen zu lassen, die ihm Stabilität verleihen würde. Stattdessen stellte Zee ständig den Rollator vor ihn hin und erinnerte ihn jedes Mal, wenn er sich bewegte, sanft daran, die Gehhilfe zu benutzen.
Meistens kam es ihr so vor, als würde sie mit einem Kind sprechen, obwohl sie wusste, dass er genau verstand, was sie sagte. Das war ihr Vater, und doch auch wieder nicht. Diesen Zwiespalt versuchte sie mittlerweile nicht mehr aufzulösen. Finch verkörperte jetzt beides, Kind und Vater. Sie merkte, wie tief ihr Bedürfnis nach einem Vater war. Da es zwischen ihnen so viel Ungeklärtes gab, war ihre Beziehung häufig nicht einfach gewesen. Trotzdem war er immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Und nun war er derjenige, der sie brauchte.
Die zärtlichen Gefühle, die sie für Finch hegte und die sie manchmal überkamen, hatten ihren Ursprung in der Verwundbarkeit, die sie nun in ihm sah, eine Verwundbarkeit, die es vielleicht schon immer gegeben hatte, die aber nun der vorherrschende Teil seiner ansonsten so schwierigen Persönlichkeit war. Finch hatte immer seinen Intellekt benutzt, um sich zu distanzieren. Wenn ihm alles zu viel wurde, hatte er sich früher häufig mit Zitaten oder in Rätseln ausgedrückt, eine Eigenart, die Melville zu amüsieren schien, die Zee dagegen oft frustrierend fand. Und nachdem nun das Medikament, das die Halluzinationen hervorgerufen hatte, aus seinem Körper herausgeschwemmt war, hatte er nicht nur aufgehört, als Hawthorne zu sprechen, er sprach überhaupt nicht mehr sehr viel, obwohl er sie eindeutig immer noch verstand. Wenn er etwas sagte, war nichts daran auszusetzen, aber er wollte das immer seltener. Und in Jessinas Gegenwart äußerte er kaum mehr als einzelne Silben, möglichst wenig – trotzdem spürte Zee, dass Finch Jessina mochte.
»Sie müssen ihn nicht wie ein Kind behandeln«, sagte Zee. »Er spricht vielleicht nicht viel, aber er versteht Sie gut.«
»Ich behandle ihn nicht wie ein Kind«, beharrte Jessina. »Das würde ich nie tun.«
Morgens badete Jessina Finch und zog ihn an, abends kam sie wieder, um ihm sein Essen zu machen und ihn ins Bett zu bringen. In den langen Stunden, die dazwischenlagen, las Zee ihm Bücher vor. Sie wusste, dass Melville das auch getan hatte, allerdings hatte der mehr Erfolg damit gehabt als Zee. Wenn die Medikamente auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung waren, döste Finch. Dann stand sie auf, steckte ein Kissen auf die Seite, auf die ihm der Kopf sank, setzte sich wieder hin und las leiser weiter, um seinen Schlaf nicht zu stören. Sie hörte aber auch nicht ganz auf, falls die Wörter irgendwo in sein Unterbewusstsein eindrangen, das noch aufnahmefähig sein konnte und das sie nur schwer erreichte, wenn Finch wach war.
Sie nahm es sich nicht heraus, Finch Hawthorne vorzulesen. Stattdessen wählte sie aus Finchs Büchern Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit , zum Teil, weil sie nie mehr als den ersten Band geschafft hatte, und zum Teil, weil sie dachte, der Text könnte Finchs unfreiwilliger oder Proustscher Erinnerung nachhelfen. Vielleicht würde sie Jessina dazu bringen, Madeleines zu backen, sollte sie ein Rezept dafür finden.
Wenn sie nicht mehr lesen konnte, legte sie die sanfte Musik auf, die Finch immer gerne gehört hatte: Tschaikowskis Schwanensee oder manchmal auch Puccini.
Wenn die Wirkung der Medikamente nachließ, wurde Finch erregt und verspürte den Zwang herumzulaufen, obwohl diese Zeit dafür am wenigsten geeignet war. Er hatte schon zwei Stürze hinter sich.
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