Die Widmung: Roman (German Edition)
auf Lilly Braedon zu sprechen. Es war immer zögerlich, ein Austesten, das Zee von ihrer Praxis her kannte. Manchmal war es eine Bemerkung nebenbei oder sogar eine Frage, die an der ärztlichen Schweigepflicht kratzte, diese aber nicht wirklich verletzte. Wie lange hatte Zee Lilly behandelt? Hatte sie ihre Kinder kennengelernt?
»Ich kann mit dir nicht über Lilly Braedon sprechen«, sagte sie. »Ich kann noch nicht einmal mit ihrer eigenen Familie über sie sprechen.«
Und dabei hätte Zee gerne über Lilly geredet. Einerseits wäre er genau der richtige Gesprächspartner gewesen. Er war ein Augenzeuge und fühlte sich in gewisser Weise Lilly und ihrem Schicksal verbunden. Das war typisch für solche Fälle. Sie wusste, dass er sich immer fragen würde, ob er sie hätte retten können. So viel hatte er ihr schon gesagt. Aber andererseits wusste Zee: Wenn sie erst anfing, mit Hawk über Lilly zu sprechen, dann wäre es schwer, wieder aufzuhören. Sie dachte zurzeit immer öfter an Lilly. Zee lief Gefahr, nicht nur die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen, sondern auch die Beziehung als Ersatz für die Therapie zu benutzen, die sie offensichtlich brauchte. Sie war sich bewusst, dass sie das vielleicht sogar schon tat, wenn auch anders. Sie mochte Hawk wirklich gerne, und sie wollte ihn für gar nichts benutzen. Sie hatte erkannt, dass sie wegen des Todes ihrer Patientin eine Therapie brauchte, aber sie war nicht bereit dafür, noch nicht.
Am Ende der dritten Juliwoche war sie bereit. Sie vereinbarte einen Termin mit Mattei und fuhr nach Boston.
Mattei sah völlig verändert aus – sie war ziemlich braun gebrannt und trug einen Rock, der aussah, als wäre er aus den frühen Sechzigern.
»Ich glaube, ich habe dich noch nie in einem Rock gesehen«, sagte Zee.
»Ich glaube, ich habe noch nie einen getragen«, entgegnete Mattei lachend. »Ich übe für die Hochzeit.« Sie lief einmal durch das Zimmer, um es zu demonstrieren. »Ich könnte damit fast aus ›Mad Men‹ entsprungen sein, oder? Betty Draper vielleicht.«
Zee setzte sich. »Und, wie läuft es hier?«
»Ganz gut eigentlich. Michelle hat zwei Patienten von dir übernommen, Greta den Rest. Sie wollen alle wieder zu dir, aber größtenteils kommen sie klar. Bei Mr. Goodhue musste ich die Dosis erhöhen.«
»Das war abzusehen«, sagte Zee.
»Die neuen habe ich zu Greta geschickt. Ein Mann war da, der hat nach dir gefragt und wollte warten.«
»Was für ein Mann?«
»Er heißt Reynaldo. Offensichtlich eine Überweisung.«
Zee kannte den Namen. Sie hatte ihn schon einmal gehört, aber sie erinnerte sich nicht, wo das gewesen war. »Eine Überweisung von wem?«
»Ich weiß nicht mehr. Ich kann es nachschauen.«
»Nein«, sagte Zee. »Ist nicht wichtig.«
»Worüber möchtest du denn heute sprechen?«, fragte Mattei. »Du bist ja sicher nicht die ganze Strecke hergefahren, um über die Praxis zu reden.«
»Ich möchte über Lilly reden«, sagte Zee.
»Das hatte ich erwartet«, meinte Mattei.
Zee saß eine Weile schweigend da. Schließlich ergriff sie doch das Wort, was ihr sichtlich schwerfiel. »Ich glaube nicht, dass ihr Tod ein Selbstmord war.«
»Alle Beweise sprechen für das Gegenteil.«
»Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Das machen nicht alle Selbstmörder.«
»Vielleicht.«
»Deine eigene Mutter hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.«
Zee stutzte. »Wieso erwähnst du meine Mutter?«
»Was glaubst du wohl?«
»Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Lilly ging es schon besser.«
»Das ist oft der Fall.«
»Nein, das hier war anders.« Zee spürte, wie sie errötete.
»Du ärgerst dich«, sagte Mattei.
Zee nickte.
»Über wen?«
»Jetzt gerade über dich«, sagte Zee.
»Und über wen noch?«
»Über mich.«
»Warum ärgerst du dich über dich?«, fragte Mattei.
»Weil ich es hätte verhindern können.«
»Wie denn?«, fragte Mattei. »Wie hättest du es verhindern können, wenn du es gar nicht kommen gesehen hast?«
»Ich hätte ihn daran hindern können«, sagte Zee.
»Adam?«
»Ja, Adam. Was glaubst du denn, von wem ich rede?«
»Und wie hättest du ihn daran hindern können?«, fragte Mattei.
»Ich hätte darauf bestehen sollen, dass die Polizei etwas unternimmt«, sagte Zee.
»Ich finde, da bist du aus dem Schneider. Du hast alles getan, was getan werden konnte. Mehr noch sogar.«
»Du findest, ich habe eine Grenze überschritten«, sagte Zee.
»Findest du das denn selbst?«
Viele Grenzen,
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