Die Widmung: Roman (German Edition)
weinen. Bisher hatte sie nicht geweint, sie stand einfach nur unter Schock. Und sie fühlte sich schuldig. Sie erkannte Lillys Kinder von Fotos. Sie saßen in der ersten Bank, das Mädchen plapperte arglos dahin, der Junge, der sonst so lebhaft sein sollte, saß abseits von Vater und Schwester und starrte geradeaus auf die weiße Wand. Zee konnte den Blick nicht von dem Jungen abwenden. Sein Gleichmut brach ihr das Herz. Beinahe rechnete sie damit, dass er vor dem Sarg salutieren würde wie John-John Kennedy auf den berühmten Fotos.
* * *
Mattei hatte Lilly bei ihrer dritten Sitzung Lithium verschrieben. Sie diagnostizierte eine Bipolar- II -Störung, wahrscheinlich zum Teil genetisch bedingt, auf jeden Fall verbunden mit Panikzuständen. Mattei begleitete Zee die ersten zwei Monate bei Lillys Behandlung, bis sie sicher war, dass Lilly medikamentös richtig eingestellt war. Während manischer Phasen tendierten Patienten häufig dazu, die Medikation zu unterbrechen. Es war sehr wichtig, sowohl die Medikamente wie auch die Dosierung zu überwachen. Als Mattei sicher war, dass die Dosierung stimmte und die Medikamente wirklich eingenommen wurden, übergab sie den Fall an Zee.
Lilly hatte mehrere Monate gebraucht, bis sie begann zu reden. Aber als sie es schließlich tat, war es, als würde man nach einem Nor’easter im Hafen von Salem die Schleusentore öffnen. Sie hörte nicht mehr auf. Sie habe eine perfekte Kindheit gehabt, antwortete sie auf Zees Frage. Es habe keinerlei Form von Missbrauch gegeben, ebenso wenig Fälle von Alkoholismus in der Familie. Ihre Mutter und ihr Vater hatten eine wunderbare Beziehung. Und Lilly liebte ihren Ehemann. Vielleicht nicht unbedingt »mehr als das Leben«, so wie er sie laut seinen Worten liebte, aber sie liebte ihn. Die nächsten drei Sitzungen verbrachte sie damit, darüber zu sprechen, wie und warum das so war.
»Es geschah beim Sex.« Lilly beantwortete Matteis Frage erst, als sie bereits im sechsten Monat bei Zee in Behandlung war. Daher dauerte es einen Augenblick, bis Zee verstand, was sie meinte. »Meine erste Panikattacke … das geschah beim Sex mit Adam.«
Das war, bevor Lilly ihr die Geschichte von Adam erzählt hatte. Zuerst glaubte Zee, sie meine ihren Ehemann, aber ihr Ehemann hieß William. Lilly beobachtete Zees Reaktion. Sie rechnete damit, abgeurteilt zu werden. Doch Zee zuckte nicht mit der Wimper.
»Erzählen Sie mir von Adam.« Mehr sagte sie nicht.
Etwa um diese Zeit hörte Zee auf, Mattei sämtliche Geschichten von Lilly weiterzuerzählen. Bei ihren Fallbesprechungen, die bislang immer sehr detailliert gewesen waren, wurden die Ecken und Kanten zunehmend abgerundet, so dass sie sich leichter ins große Ganze einfügten. Es gab mehr Diskussionen über die Symptome, die Phasen und das Fortschreiten der Krankheit als über die Einzelheiten jedes Falls. Mattei ihrerseits hielt es für einen guten Schritt, dass Zee als Therapeutin an Sicherheit gewann. Sie hatte das Gefühl, Zee würde die Fallbelastung bewältigen, und schickte weitere Patienten zu ihr.
Im Juni war es offensichtlich, dass Lilly entweder aufgehört hatte, ihre Medikamente zu nehmen, oder dass die von Mattei verschriebene Dosis zu gering war. Lilly befand sich inmitten einer der manischsten Phasen, die Zee je mit angesehen hatte.
Lillys Füße bewegten sich wieder. Sie schlief nie. Sie gab Unsummen von Geld aus. Allein die Lebensmittelrechnungen für die aufwändigen Festmahle, die sie ihrer Familie aufgrund ihres schlechten Gewissens zubereitete, beliefen sich auf etwa 750 Dollar wöchentlich – für zwei Erwachsene und zwei Kinder, die noch dazu beide sehr pingelig waren, was Essen anging. Lilly verstand nicht, warum sie überhaupt jemals ein Kindermädchen gebraucht hatte. Mit zwei kleinen Kindern kam sie leicht zurecht. Und ihre Rendezvous mit Adam wurden immer gewagter. Da jetzt kein Kindermädchen mehr herumlief, war Lilly dazu übergegangen, Adam am späten Nachmittag in ihr Haus zu schmuggeln, indem sie behauptete, es wären Reparaturen nötig, zuerst an den Fensterläden im Spielzimmer und später an einer schiefen Kranzprofilleiste im Wohnzimmer, die sie schon seit Jahren störte.
Lilly und Adam schliefen auf jeder waagerechten Fläche im Haus miteinander. Eines Nachmittags hörte ein Nachbar ihre leidenschaftlichen Lustschreie und rief die Polizei, weil er glaubte, den Kindern würde etwas angetan. Als der Streifenwagen vor dem Haus hielt, machte sich Adam durch die
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