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Die Widmung: Roman (German Edition)

Die Widmung: Roman (German Edition)

Titel: Die Widmung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brunonia Barry
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schlafen und beim ersten Tageslicht aufbrechen.
    Dass sie plötzlich auf dem Steg stand, überraschte ihn. Es war kühl, und ihr Haus lag ganz am anderen Ende der Insel.
    »Ich habe Essen gemacht«, sagte sie. »Falls Sie Hunger haben.«
    Eigentlich wollte er dankend ablehnen. Er hatte etwas zu essen an Bord, nichts Besonderes, aber bis zum nächsten Morgen würde es reichen. Doch als er sich umwandte, um ihr zu antworten, war sie bereits am Ende des Stegs und winkte ihm, ihr zu folgen. Er rief ihr nach, zwecklos, denn sie lief gegen den Wind, so dass sie ihn nicht hörte. Sie verschwand auf dem Pfad in der Dunkelheit.
    Melville nahm für den Weg zu ihrem Haus die Taschenlampe mit. Vor sich sah er zwar das einsame Licht, aber der Pfad war schmal und seit dem Sommer nicht mehr gemäht worden. Ein falscher Schritt in irgendeine Richtung, und man konnte sich leicht den Fuß verstauchen, besonders in der Dunkelheit.
    Sie stand im Türrahmen und erwartete ihn. Er hatte ihr eigentlich immer noch absagen wollen, mit der Begründung, er sei auf dem Boot gut versorgt, doch da sah er, dass der Tisch für zwei gedeckt war. Die Öllampen, die den Raum erleuchteten, versetzten ihn an einen anderen Ort und in eine andere Zeit, und er bemerkte plötzlich ihr Spitzenkleid. Sie war wunderschön. Die roten Haare hingen ihr in wilden Locken über den Rücken. Ohne ein Wort von dem zu sagen, was er hatte sagen wollen, ging er hinein und setzte sich an den Tisch. Sie schenkte Wein ein.
    Später sollte er sich erinnern, dass es ihm damals vorkam, als wäre etwas nie Dagewesenes plötzlich möglich geworden, etwas, das er bis dahin noch nie in Betracht gezogen hatte. Er bemerkte den Ring an ihrem Finger, sie verbarg ihn nicht. Er erlebte alles intensiver, und jede ihrer Handbewegungen war wie ein Flügelschlag. Ihr Hals war bleich und lang, ein Schwanenhals, dachte er. Poesie und Kunst kamen ihm in den Sinn, Bilder von Leda und dem Schwan, Leonardos sinnliches Gemälde und der verschollene Michelangelo. Sie war Schönheit der Form, der Bewegung. Das weibliche Ideal. Und unwillkürlich sprach er laut die Verse, die ihm eingefallen waren:
    Ein jäher Stoß: die Schwingen schlagen noch
    Über den Taumelnden, Lenden liebkost
    Von dunkler Schwimmhaut, Schnabel ums Genick,
    Hält er sie, hilflos, Brust auf seiner Brust.
    Sie kam zu ihm. Er strich ihr die Haare vom Hals und küsste sie. Noch mehr Gedichte fielen ihm ein, all die Verse von Yeats, die er gelernt und wieder vergessen hatte, kehrten zurück, und er sprach die Worte wie einen feierlichen Gesang, während sie sich liebten. Und als die Zeilen endeten, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sich an sie erinnerte, die betörenden Worte von »Die Harfe des Aengus«, schliefen sie eng umschlungen tief und fest in kindlicher Unschuld.
    Am nächsten Morgen brach er auf, nicht ganz sicher, was sich da ereignet hatte. Es war nicht so, dass er keine Frauen mochte. Irgendwann dachte er, er sei nicht homo-, sondern bisexuell, doch das war so lange her, dass er diese frühe Phase in seinem Leben beinahe vergessen hatte. Er lachte über sich, meinte, eine Sirene habe ihn verführt. Das war alles so seltsam und traumartig, dass er sich gar nicht ganz sicher war, ob es je passiert war.
    In den nächsten Wochen zog es ihn zurück auf die Insel. Doch stattdessen fuhr er nach Gloucester und heuerte auf einem Schwertfischfänger an, dann auf einem größeren Schiff, das für mehrere Monate auslief. Er schlief in jedem Hafen mit jedem verfügbaren Mann, gefährlicher, anonymer Sex, der ihn daran erinnern sollte, wer er wirklich war.
    Doch er bekam sie einfach nicht aus dem Kopf. Lauschte er dem Wind und den Gezeiten, hörte er ihre Poesie. In Newburyport verließ er das Schiff und fuhr per Anhalter zurück nach Manchester. Im Buchladen kaufte er den weißen Band mit den Gedichten von William Butler Yeats. Und er schrieb ihr eine Widmung in das Buch und ein Zitat, das für sie gedacht war, auf die Titelseite: Komm hinfort, o Menschenkind! Auf zu Wassern, Wildnis, Wind …
    Mit seinem Boot fuhr er zu Baker’s Island und lief zu dem Häuschen. Doch es war winterfest gemacht und abgesperrt.
    Er war gleichzeitig enttäuscht und erleichtert. Das Buch legte er zwischen die beiden Türen. Er hoffte, es würde den Winter unbeschadet überstehen, den späten Schneefall und die Regengüsse im Frühjahr, die noch bevorstanden, so dass sie, wenn es sie überhaupt wirklich gab, das Buch finden würde.
    Melville

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