Die Widmung: Roman (German Edition)
verließ Salem zum zweiten Mal in der Nacht, als Finch und Zee Maureen aus dem Krankenhaus nach Hause brachten. Als sie ihr ins Haus halfen, blieb Maureen stehen und wandte sich langsam um. Melville stand auf der anderen Straßenseite und betrachtete das Haus. Sie sah sein Gesicht einen ganz kurzen Augenblick, bevor er sie erkannte, und in diesem Moment begriff sie. Ihre Blicke trafen sich. Sie standen da wie zwei Statuen, bis Zee und Finch sich umwandten, um zu sehen, wohin Maureen schaute. Mit schlechtem Gewissen drängte Finch Maureen ins Haus.
In derselben Nacht noch war Melville aufgebrochen, diesmal nach Kalifornien und später in Richtung Norden zu den Aleuten. Nach Salem kehrte er erst wieder etwa ein Jahr nach Maureens Tod zurück.
Dann nahm er die Stelle im Athenaeum an und ließ sich zu einem ruhigen Leben nieder. Er hielt sich vor allem auf seiner Seite der Stadt auf.
Als Finch ihn schließlich fand, brachte er ihm den Abschiedsbrief mit. »Komm zurück zu mir«, bat er ihn.
»Das kann ich nicht«, sagte Melville. »Das würde niemals funktionieren. Nicht nach dem, was mit Maureen passiert ist.«
»Verstehst du denn nicht?«, meinte Finch. »Diese Beziehung muss gelingen, nicht trotz allem, was mit Maureen geschehen ist, sondern deswegen.«
Melville zog zu Finch und Zee in das alte Haus in der Turner Street.
Sie schafften es zwar nie, sich Maureens Tod zu verzeihen, aber ihre Herzen fanden die Kraft, einander zu vergeben.
Sie liebten ihre Tochter, erfreuten sich auf eine Weise an ihr, die sie beide überraschte. Finch hatte immer Vater sein wollen, für Melville hingegen war das nie in Frage gekommen. Dennoch stellte er sich der Aufgabe, und sie erfüllte ihn.
Gemeinsam bewahrten sie das Buch und den Brief, den Maureen hinterlassen hatte, an einem Ort auf, wo Zee es niemals finden würde.
All die Jahre waren nicht einfach gewesen, aber das ist die wahre Liebe selten. Sie lernten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Zumindest schien es so, bis Finchs Krankheit und die Demenz so weit fortgeschritten waren, dass sie ihnen die Vergangenheit zurückbrachte, als wäre das alles nicht vor Jahren passiert, sondern erst gestern. Und kaum war der Verrat erneut durchlebt, hatte er genug Wirklichkeit gewonnen, um Finch den Schmerz so stark spüren zu lassen, dass sein Zorn all die Jahre auflöste, die sie als Familie gemeinsam gewebt hatten.
57
Melville hatte nicht gemerkt, dass er weinte, bis ihn die Teenager anstarrten, die über den Parkplatz bei der Fähre liefen. Einen erkannte er von Mickeys Laden wieder. Melville wandte den Kopf ab.
An diesem Abend hätte Melville beinahe einen gewaltigen Fehler begangen. Fast hätte er Zee verraten, dass sie in Wirklichkeit seine Tochter war. Er hätte ihr zwar nie den Abschiedsbrief gegeben, aber er war drauf und dran gewesen, ihr das Buch zu überlassen. Er hatte sogar ihren vollen Namen auf die Geburtstagskarte geschrieben, die er ihr überreichen wollte: Hepzibah Thompson Finch.
Er musste mit Finch reden, und zwar heute noch.
Melville fuhr mit dem Buch und Maureens Brief zum Pflegeheim. Um Viertel vor acht trug er sich in das Besucherverzeichnis ein.
»Charles Thompson?«, fragte die Empfangsschwester.
Er nickte.
»Gehören Sie zur Familie?«
»Ja«, log Melville.
»Die Besuchszeit geht nur noch bis acht«, informierte sie ihn.
»Ich bleibe bloß ein paar Minuten.«
Melville ging den Korridor entlang auf Finchs Zimmer zu. An der Tür blieb er stehen. Falls Finch schlafen sollte, würde Melville ihn wecken müssen.
Finch merkte intuitiv, dass er beobachtet wurde, und schlug die Augen auf.
»Wer ist da?«, fragte er.
»Ich bin’s. Melville. Ich wollte reden.«
Finch rührte sich nicht. Als er klar sehen konnte, schaute er Melville an.
»Aber bitte erst das Bett hochstellen«, bat Finch. »Wenn es so flach ist, kriege ich keine Luft.«
Mit klopfendem Herzen ging Melville zum Bett. Er tastete nach den Schaltern, drückte den nach oben gerichteten Pfeil, und das Kopfende des Betts fuhr langsam hinauf und brachte Finch in Sitzposition. Die beiden Männer waren nun in Augenhöhe.
»Gut so?«, fragte Melville.
»Wunderbar.« Finch seufzte. Er betrachtete Melville lange. »Es ist Wochenende, stimmt’s?« Er versuchte sich zu erinnern.
»Das Wochenende vom Labor Day«, bestätigte Melville. »Es ist früh dieses Jahr. Heute ist Sonntagabend und Zees Geburtstag. Morgen haben wir den ersten September.«
Das hatten sie schon öfter gemacht. In
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