Die Widmung: Roman (German Edition)
sie. »Fast hätte ich einen Strafzettel kassiert. Zum Glück hatte Melville passendes Kleingeld.«
Finch wirkte so erleichtert, dass Zee beinahe geweint hätte. Das Buch lag noch auf dem Tisch, wo sie es hingelegt hatte. Sie nahm es in die Hand und drehte es um, wollte die Texte auf der Rückseite lesen. Vom Umschlag blickte ihr ein jünger aussehender Finch entgegen. Er stand vor dem Haus mit den sieben Giebeln. »Auf diese Hecken«, sagte sie und hob ihr Glas.
Melville war seine Belustigung über ihren Trinkspruch anzusehen. So sehr sie sich manchmal über ihn ärgerte, Melville gehörte doch zu den wenigen Menschen auf der Welt, die sie wirklich verstanden.
Sie bestellten das Essen und tranken mehrere Gläser Wein.
Da sie zu Ehren Finchs feierten, hatte Melville vorgehabt, alle einzuladen. Doch Finch ließ es sich nicht nehmen und bestand darauf zu bezahlen. Die Rechnung betrug 150 Dollar, aber Finch legte 240 Dollar in bar auf den Tisch, was für ihn, den sparsamen Yankee, ungewöhnlich war. Melville zog drei Zwanzig-Dollar-Scheine wieder heraus. »Ich glaube, die klebten zusammen.« Er gab sie Finch zurück. »Verdammte Geldautomaten.«
Finch guckte zuerst überrascht, dann ein wenig beschämt. Er steckte sich die Scheine wieder in die Tasche.
Zee merkte, dass er ernstlich verwirrt war.
»Was ist los mit meinem Vater?«, fragte sie Melville, als sie ihn am nächsten Vormittag anrief. Sie wechselte gerade den Seminarraum, und der Empfang ihres Handys setzte immer wieder aus.
»Er hat viel Wein getrunken«, sagte Melville.
»Er trinkt immer viel Wein.«
»Vielleicht klebten die Scheine wirklich zusammen.«
»Sicher«, sagte Zee.
Auf Melvilles Drängen hin hatte Finch bereits einen Termin bei seinem Hausarzt vereinbart. Zee fand, er sollte lieber zu einem Neurologen in Boston gehen.
Ungefähr sechzig Sekunden lang gehörte ihr das Gefühl der Erleichterung, als der Neurologe gesagt hatte, es sei nicht Alzheimer. Dann eröffnete er ihnen: »Es ist Parkinson.«
Fast zehn Jahre später brauchte Finch nun über eine Minute, um quer durch die Arztpraxis zu schlurfen.
»Gut«, sagte der Neurologe. »Aber eigentlich sollten Sie ja den Rollator benutzen. Sind Sie seit Ihrem letzten Besuch gestürzt?«
»Nein«, sagte Finch.
»Und wie sieht es mit Freezing aus?«
»Nein«, sagte Finch. »Gar nicht.«
Der Arzt nahm ein Blatt Millimeterpapier und zeichnete wieder die Wellenlinien, die er bei jedem Termin in den letzten zehn Jahren aufgemalt hatte. Er zog eine gerade Linie durch die Mitte: der ideale Wert, der einen normalen Dopaminhaushalt anzeigte und bedeutete, dass die Medikamente wirkten. Auf diesem neuen Bild waren die Wellen höher und weiter auseinander, die normalen Phasen viel kürzer.
»Das Ziel ist es, ihn in der Mitte zu stabilisieren«, sagte der Arzt.
Sie wusste sehr gut, was das Ziel war. Auf dem Höhepunkt der Welle war zu viel Dopamin vorhanden, und Finchs Gliedmaßen und der Kopf bewegten sich von selbst, eine langsame, komische Bewegung, bei der er aussah, als würde er schwimmen. Auf dem niedrigsten Punkt der Welle war Finch starr und unsicher. Dann wollte er nur noch hin- und hergehen, aber die Steifheit machte jede Bewegung unmöglich, so dass er zu stürzen drohte.
»Es ist schade, dass das Retard-Präparat nicht gewirkt hat«, sagte der Arzt. »Und Agonisten funktionieren bei ihm eben auch nicht. Wie Sie wissen, rufen sie bei manchen Patienten Halluzinationen hervor.« Er wandte sich an Finch. »Wir können Sie ja nicht für immer als Nathaniel Hawthorne leben lassen, oder, Professor?«
Finch sah Zee hilflos an.
»Was ist denn jetzt der nächste Schritt?«, fragte sie.
»Es gibt eigentlich keinen nächsten Schritt, außer dass wir den Dopaminwert erhöhen.«
Er nahm Finchs Hand und sah sie sich an, dann legte er sie sanft in Finchs Schoss und wartete auf Tremoranzeichen. »Eine Operation hilft nur gegen den Tremor, wie es aussieht, und der ist bei ihm glücklicherweise nicht ausgeprägt.«
Zee fand es schwer, im Zusammenhang mit der Krankheit, die ihren Vater langsam umbrachte, überhaupt von Glück zu reden.
»Wir verabreichen das Sinemet weiter zu den bisherigen Zeiten. Nur hier« – er deutete auf die Zeichnung – »und hier geben wir eine halbe Tablette dazu.«
»Er bekommt es also im Prinzip weiterhin alle drei Stunden«, wiederholte Zee, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht missverstanden hatte. »Und die Dosis wird zweimal erhöht.«
»Genau«, sagte der Arzt.
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