Die Widmung: Roman (German Edition)
»Sundowning«-Syndrom.
In der kurzen Zeit, seit sie hier war, hatte Zee bemerkt, dass Finch häufig desorientiert wirkte, wenn der Tag sich neigte. Das führte dazu, dass ganz normale Tätigkeiten wie Waschen oder Umkleiden für die Nacht ihn sehr strapazierten. Bei manchen Demenzpatienten war das ein normales Symptom, das »Sundowning« genannt wurde. Er machte dann oft einen ängstlichen Eindruck, und häufig wanderte er auch umher, wie in der ersten Nacht, als er an Zees Bett stand, bevor das »Freezing« einsetzte. Vom »Sundowning« wusste Zee, aber es betraf häufiger Alzheimer- als Parkinson-Patienten.
Wenn diese abendliche Störung auftrat, wollte Finch oft seine Medizin nicht nehmen. Sie brauchte bis vier Uhr morgens, um ihn zu überreden, etwas Tradozon einzunehmen, und um sieben Uhr, wenn er die erste Dosis Sinemet bekommen sollte, schlief Finch tief und fest.
»Tut mir leid«, wiederholte Michael, nachdem er gesehen hatte, wie sehr sich Finchs Zustand verschlechtert hatte. »Ich dachte, du übertreibst nur wieder.«
Mit demselben Satz hatte William Lilly beschrieben, als er sie zum ersten Mal Mattei vorgestellt hatte. Die Wortwahl war interessant, und Zee hätte Michael vielleicht darauf angesprochen, wenn sie nicht beide so müde gewesen wären. Sie war gereizt, beschloss aber, es sei keinen Streit wert.
»Ich fürchte, die Ergotherapeutin hat recht«, sagte er. »Finch muss auf jeden Fall in ein Pflegeheim.«
»Er würde eher sterben, als in ein Heim gehen.«
Mit sichtlich schlechtem Gewissen half Michael Zee später an diesem Vormittag dabei, noch mehr Zeitungen wegzuräumen. Sie stapelte Melvilles Habseligkeiten aufeinander, Sachen, die sie ihm entweder bringen würde oder die er irgendwann durchsehen konnte, wenn Finch gerade nicht zu Hause war.
Sie sprachen wenig, während sie arbeiteten.
Um sechs Uhr bestellten sie etwas beim Chinesen. Sie aßen mit Finch und Jessina in der Küche. Jessina witzelte über die Essstäbchen und drohte, Finch damit zu füttern statt mit der Gabel, die sie benutzte.
»Lassen Sie ihn doch selbst essen«, erinnerte Zee sie. Alle sahen schweigend zu, wie Finch versuchte, mit der Gabel zu hantieren.
Nach dem Essen öffnete sie eine Flasche zwanzig Jahre alten Portwein, den Michael Finch zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
»Den hat er noch?«, wunderte sich Michael.
»Er hat fast alle noch.« Sie zeigte es ihm. »Melville macht hin und wieder eine auf, aber Finch trinkt nicht mehr.«
»So was«, staunte Michael.
»Ich habe dir das schon vor langer Zeit gesagt.«
Er sah sie an, als könnte ihr letzter Satz unmöglich wahr sein. Um das zu überspielen, durchsuchte er die Küchenschränke, bis er ein passendes Glas für den Portwein fand.
Zee hatte Michael öfters gesagt, dass Finch aufgehört hatte zu trinken, aber irgendwie konnte sich Michael nie mehr daran erinnern und schenkte ihm zum Geburtstag und zu Festtagen weiterhin teure Weine. Auch andere Dinge hatte er vergessen, Sachen, von denen sie sich sicher war, dass sie sie ihm erzählt hatte. Er hatte einen anstrengenden Beruf, sagte sie sich. Und der zusätzliche Stress mit der Hochzeitsvorbereitung, die sie nicht erledigt hatte, machte alles nur noch schlimmer.
Es war nicht immer so gewesen. Zumindest glaubte sie das. Zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie alles beredet. Möglicherweise hatte meistens Michael geredet. Er war sich immer völlig im Klaren darüber, was er wollte. Und die Tatsache, dass er sie wollte, war schmeichelhaft. Michael konnte jede haben. Obwohl sie sich in letzter Zeit darüber ärgerte, hatte Zee diese Sicherheit ursprünglich gemocht. Es hatte etwas Attraktives, ja beinahe Verführerisches zu wissen, wo das eigene Leben hinging. Für Zee war das etwas Neues.
Aber irgendwann hatte sie aufgehört, mit Michael zu reden. Vielleicht lag das daran, dass er nicht mehr zuhörte, vielleicht hatte sie eigentlich auch gar nie so viel mit ihm geredet. Ganz sicher jedenfalls hatte sie ihm nie von ihren Träumen erzählt. Vor allem deshalb, weil sie ihre Träume selbst nicht kannte. Jenseits davon, die Uni abzuschließen und ihre Zulassung als Ärztin zu bekommen, hatte sie sich nicht gestattet, überhaupt viel zu träumen. Sie wusste, dass dies ein Produkt ihrer Kindheit war, des Lebens mit Maureens Krankheit und der Unmöglichkeit, Pläne zu machen. Aber von dem Moment an, in dem sie sich kennengelernt hatten, hatte Michael einfach immer gedacht, er kenne Zee. Er
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