Die Wiedergeburt
Ihrer Vorstellung niemals gerecht werden – und ich will es auch nicht.«
»Die Wahrheit ist, dass meine Vorstellung Ihnen nicht gerecht wird.«
Alexandra starrte ihn an, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. »Sie sind ja verrückt!«, flüsterte sie.
Lucian schüttelte den Kopf. »Was die Wahrsagerin mir gab, war das Bild einer jungen Frau mit wundervollen Locken und dunklen Augen, doch es war nur ein seelenloses Gemälde. Über die Jahrhunderte habe ich versucht, diese Vorstellung mit Leben zu füllen. Auf diese Weise entstand das Bild einer Frau, die zwar hübsch, aber ebenso oberflächlich war. Die Frauen, denen ich bisher begegnet bin, waren nur an den schönen Dingen des Lebens interessiert, hübschen Kleidern, kostspieligen Empfängen und einem Mann, der ihnen all das ermöglicht. Wie hätte ich ahnen sollen, dass es auch anders sein konnte?« Statt einer oberflächlichen Person fand er eine selbstbewusste und starke Frau. »Ich sah Sie jahrhundertelang in meinen Träumen, doch erst als ich Ihnen das erste Mal gegenüberstand, sah ich das Leben in Ihren Augen. Und auch Ihre Furcht – vor Nähe und Verlust und davor –«
»Genug! Das reicht!« Sie machte abrupt kehrt und wollte zur Tür.
Lucian vertrat ihr den Weg. »Wo wollen Sie hin?«
»Fort von hier, bevor ich mir noch mehr Unsinn anhören muss!«
Seine Augen wanderten über das Nachthemd. Obwohl ihm gar nicht danach zumute war, musste er plötzlich grinsen. »Zweifelsohne ist das noch ungewöhnlicher als ein Paar Hosen.«
Einen Moment lang sah sie ihn verwirrt an, dann seufzte sie. »Kann ich bitte meine Sachen haben.«
»Wenn Sie wirklich darauf bestehen, werde ich sie Ihnen geben und Sie gehen lassen«, sagte er. »Allerdings wäre es mir lieber, wenn Sie blieben. Die Jäger sind noch immer dort draußen und suchen nach Ihnen.«
Lucian glaubte schon, sie wolle an ihm vorbei, doch sie wandte sich lediglich von ihm ab. Er war versucht, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, da er jedoch fürchtete, sie damit endgültig zu vertreiben, hielt er sich zurück.
Eine Ewigkeit verstrich, ehe sie sich wieder zu ihm herumdrehte. »Ich bleibe nur unter einer Bedingung: Sie müssen mir versprechen, nicht noch einmal mit diesem Gerede über Schicksal und Bestimmung anzufangen!« Er wollte ihr versichern, dass er sich künftig zurückhalten würde, als sie die Hand hob und ihm Einhalt gebot. »Das ist noch nicht alles. In zwei Wochen, wenn die nächste Kutsche nach London geht, werde ich die Stadt verlassen. Sie werden mir nicht folgen, weder nach London noch sonst wohin. Nie!«
»Einverstanden.«
»Ich will nicht Ihr Einverständnis, sondern Ihr Wort darauf!«
Und wenn ich Ihnen das nicht geben kann! »Ich versichere Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde, Ihre Bedingungen zu erfüllen. Mehr will ich nicht versprechen.«
Er hatte erwartet, dass sie erneut wütend werden würde. Stattdessen seufzte sie. »Sie sind zweifelsohne der eigenartigste Mensch, der mir je untergekommen ist.«
Lucian verkniff es sich, sie daran zu erinnern, dass er kein Mensch mehr war. Was Merkwürdigkeiten anging, war sie ihm durchaus ebenbürtig. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie den Splitter zerstören wollte, um einen Vampyr zu schützen, den sie verabscheute?
7
Nachdem sie übereingekommen waren, dass sie bleiben würde, war Lucian gegangen. Alexandra bedauerte, so unfreundlich zu ihm gewesen zu sein, doch sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Seine Gegenwart fühlte sich viel zu vertraut an. Von Anfang an hatte er ihr das Gefühl gegeben, in Sicherheit zu sein, sobald er nur bei ihr war. Es fühlte sich gut an – zugleich machte es ihr Angst, denn je näher er ihr kam, umso schwerer würde es ihr fallen, ihn zu verlassen.
Als sie später die Lampe löschte und in der Dunkelheit ihres Zimmers lag, fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich einsam. Während der vergangenen zehn Jahre, die seit dem Tod ihrer Eltern verstrichen waren, war sie an jedem einzelnen Tag allein gewesen – selbst wenn die Jäger bei ihr waren. Sie hatte sich bewusst zurückgezogen und ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Jagd gerichtet. Für Freundschaft oder Liebe war kein Platz, sie machten verwundbar und unvorsichtig. Jahrelang war jedes Gefühl in ihr tot gewesen. Ihr Wunsch nach Vergeltung hatte sie ebenso kalt werden lassen wie die Kreaturen, die sie jagte. Erst jetzt, da Lucian in ihrer Nähe und zugleich so unerreichbar war, spürte sie die
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