Die Wiedergeburt
Einsamkeit mit schmerzhafter Intensität. Zögernd streckte sie ihren Geist aus, tastete nach dem Band, von dem Lucian gesprochen hatte, und fand es in Form eines warmen Prickelns. Sie hielt sich daran fest, nahm die tröstliche Wärme in sich auf, die ihre Seele wie eine Umarmung umfangen hielt und ihren Schmerz linderte. Mit diesem Gefühl war sie schließlich eingeschlafen.
Am Morgen brachte Lucian ihr die getrockneten Gewänder und lud sie ein, zum Frühstück nach unten zu kommen. Als sie wenig später das Esszimmer betrat, saßen Lucian und der Blonde bereits an der gedeckten Tafel. Obwohl dicke Vorhänge das Tageslicht aussperrten, war es im Raum behaglich hell. An jeder Ecke stand eine Laterne und sandte ihren warmen Schein aus.
Lucian erhob sich und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Alexandra, ich möchte Ihnen Robert Bothwell vorstellen«, sagte er. »Sie sind einander ja bereits begegnet.«
Der Blonde nickte knapp, faltete seine Zeitung zusammen und ging, ohne Alexandra eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Kälte, die von ihm ausging, war beinahe noch greifbarer als die eines Vampyrs. Alexandra blieb mit Lucian allein zurück. Wie schon gestern hatte er auch jetzt eine gewaltige Auswahl an Speisen aufgetischt. Hungrig griff sie nach einem Stück Kuchen. Sie sprachen nur wenig, doch auch wenn sie zuvor befürchtet hatte, Lucian könne ihr grollen und würde beleidigt schweigen, war dem keineswegs so. Es war eine angenehme Stille, in der sie sich weder unsicher noch befangen fühlte.
Lucian saß am Kopfende der Tafel und las in der Gazette, die Robert zurückgelassen hatte. Als Alexandra nach der Teekanne griff, kam er ihr zuvor und füllte ihre Tasse erneut mit dem dampfenden Gebräu.
»Was haben Sie heute vor?«, erkundigte er sich, als er die Kanne wieder abstellte.
»Ich will in die Bibliothek.«
»Wegen des Kreuzes?«
»Ich muss mehr darüber wissen.« Vielleicht fand sie dort einen Hinweis, wie sich der Splitter vernichten ließ. Es war denkbar, dass sie erst in einem größeren Archiv – in London oder Rom – mehr darüber in Erfahrung bringen konnte, dennoch befand sie, dass es durchaus einen Versuch wert war. Immerhin hatte Catherine dort auch die Spuren gefunden, die sie letztlich zum Schwarzen Kreuz geführt hatten.
»Wir werden Sie begleiten«, sagte Lucian. Sie wollte widersprechen und ihm sagen, dass es zu gefährlich sei, falls die Jäger ihn entdeckten, doch er schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es gar nicht erst. Was denken Sie, werden die Jäger tun, wenn sie Sie sehen?«
So wie ihre letzte Begegnung verlaufen war, würde Vladimir sie womöglich vor lauter Zorn umbringen. Ganz sicher jedoch würde er einmal mehr alles daransetzen, dass sie ihnen Lucians Aufenthaltsort verriet. Und diesmal wusste sie, wo er war.
»Ich will Sie nicht allein da draußen wissen, Alexandra.«
Während sie ihr Frühstück beendete, war Lucian gegangen, um Bothwell zu bitten, die Droschke bereit zu machen. Als sie nach oben ging, um ihren Gehrock und den Mantel zu holen, dachte sie daran, den Splitter mitzunehmen, entschied sich dann aber dagegen. Sie war versucht, ein anderes Versteck als die Schublade dafür zu suchen, doch was sollte das bringen? Lucian würde ihn ihr nicht wegnehmen, und falls die Jäger herausfanden, dass Alexandra sich auf Lauriston House aufhielt, würden sie ohnehin das ganze Haus danach absuchen. Im Augenblick war der Splitter jedoch sicher.
Wenig später saß sie Lucian gegenüber in der Karosse. Bothwell hatte sich auf den Kutschbock geschwungen und lenkte das Gefährt. Alexandra wagte kaum, Lucian anzusehen. Wann immer sie es tat, spürte sie sofort das Band zwischen ihnen, warm und erschreckend vertraut. Wie konnte sie all sein Gerede über Schicksal und Bestimmung als Unsinn abtun, wenn sie es selbst spürte?
Alexandra schob die Frage beiseite. In spätestens zwei Wochen läge Edinburgh hinter ihr und sie würde Lucian Mondragon nie mehr wiedersehen.
Ihre Gedanken wanderten zu Bothwell, der in seinem Kutschermantel auf dem Bock saß, den Kragen hochgeschlagen und den Dreispitz tief ins Gesicht gezogen, um sich vor dem feinen Sprühregen zu schützen.
»Mr Bothwell ist kein Vampyr«, brach sie nach einer Weile das Schweigen.
»Sie doch auch nicht.«
»Es erstaunt mich nur, dass …«
»Dass ich Freunde habe?«, half er aus, als sie nicht weiterwusste.
»Ja. Nein!« Sie verzog das Gesicht. »Ganz gleich, was ich jetzt sage, ich mache es dadurch nicht
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